Verletzte direkt an die Front – Partisanen zeigen Folgen der Verluste in Russland
Russlands Soldaten leiden. Die medizinische Versorgung ist mangelhaft. Auch wenn der Kreml es nicht zugibt: Die Verluste sind enorm.
Moskau – Russland hat laut einer kürzlich freigegebenen Bewertung der US-Geheimdienste etwa 87 Prozent der zu Beginn des Ukraine-Kriegs aktiven Bodenstreitkräfte verloren. Eine der Ursachen hierfür könnte mangelhafte medizinische Versorgung der Truppen sein. Eine ukrainische Partisanengruppe hat nun womöglich brisante Einblicke in die Gesundheitsversorgung der russischen Armee gegeben.
Eigentlich ist die Partisanengruppe Atesh (zu Deutsch: Feuer), getreu ihres Namens, dafür bekannt, hinter feindlichen Linien Anschläge auf russische Militäreinrichtungen und Soldaten auszuführen. Auch dieses Mal hat sie sich tief in Feindesland gewagt. Allerdings nicht, um russischen Soldaten in Lebensgefahr zu bringen. Denn falls es stimmt, was die Gruppe im Moskauer Hauptkrankenhaus Burdenko herausgefunden haben will, erfahren die verletzten Soldaten dort auch ohne fremdes Zutun genügend Leid. Die Darstellungen lassen sich gleichwohl nicht unabhängig überprüfen.
Verluste für Russland: Patienten auf Fluren und in Speisesälen - Auch Verletzte zurück an die Front
In einem Post auf der Plattform X (vormals: Twitter) beruft sich die Gruppe auf interne Quellen aus dem Krankenhaus. Von diesen habe man erfahren, wie groß die Probleme seien. Die gesamte Einrichtung sei mit Militärangehörigen überbelegt. Einige Patienten seien gar gezwungen, auf den Fluren und sogar im Speisesaal zu bleiben. Die Situation sei so kritisch, dass man sich teils weigere, neue Patienten aufzunehmen. Verletzte würden die Front zurückschickt, ohne sie als invalide anzuerkennen. Darüber hinaus leiste Russland Zahlungen für Verwundungen nicht rechtzeitig oder gar nicht.
So schockierend das klingen mag, gänzlich neu sind diese Thesen nicht. Bereits im September berichtete die Website Business Insider, dass verletzte russische Soldaten aufgrund des Personalmangels an die Front in der Ukraine zurückgeschickt werden - ohne behandelt worden zu sein. Unter Berufung auf den russischen Radiosender Siberia.Realities zitierte das Portal die Mutter eines russischen Soldaten namens Nikolai. Diese habe erzählt, dass ihr Sohn aufgrund von Granatsplittern in beiden Beinen nicht mehr „ohne Schreien“ oder Schmerzmittel habe laufen können. Trotzdem sei er wieder in die Ukraine geschickt worden.
„Wie Kühe auf dem Schlachthof“ - Ein russischer Soldat überlebt im Schnitt viereinhalb Monate
Beim ersten Mal sei er zwar in ein Krankenhaus gebracht worden, die Granatsplitter seien jedoch nicht entfernt worden. Beim zweiten Mal habe er am Tag nach seiner Verletzung an die Front zurückkehren müssen. Die Frau habe sich darüber empört, dass Soldaten „wie Kühe auf dem Schlachthof“ behandelt würden. Gleichzeitig habe sie die schlechte Behandlung ihres Sohnes darauf zurückgeführt, dass dieser als ehemaliger Gefangener für den Ukraine-Krieg rekrutiert worden sei. Die einzige Erklärung scheint das jedoch nicht zu sein.
Eine weitere Frau habe erzählt, dass ihr Mann Kostja, der in derselben Brigade diente, am selben Tag wie Nikolai durch Schrapnell verwundet wurde. „An diesem Tag hatten sie schreckliche Verluste, sechs Männer auf zehn“, erzählte die Informantin. Der Einheit sei die Munition ausgegangen, da die Männer „mit halbleeren Magazinen“ ausgestattet worden seien - „nicht genug Munition für eine halbe Minute“. Dass überhaupt ein Viertel der Soldaten zurückgekehrt sei, sei „ein großes Wunder“.
Einem Untersuchungsbericht unabhängiger russischer Medien zufolge dauert es im Durchschnitt nur viereinhalb Monate, bis ein russischer Soldat in der Ukraine sterbe, so Business Insider.
„Keine angemessene Rehabilitation“ - Große Verluste für Russland schon in ersten Kriegswochen
Ein ähnliches Bild zeichnet eine Veröffentlichung der unabhängigen russischen Tageszeitung The Moscow Times aus dem Januar. Gegenüber der staatlichen russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti hatte Olga Demitschewa, Mitglied des präsidialen Menschenrechtsrats, zugegeben, dass der Rat Fälle nicht angemessener medizinischer Versorgung untersuche. Teilweise seien „Soldaten, die eine hochtechnologische medizinische Versorgung und Empfehlungen zur Rehabilitation erhalten hatten, sofort an die Front geschickt“ worden. Auch Valentina Melnikowa, Sekretärin des russischen Komitees der Soldatenmütter, habe bestätigt, dass einige Soldaten keine angemessene Rehabilitation erhalten hätten.
Noch düsterer sind die Schilderungen von Andrej, einem belarussischen Arzt. Zu Beginn der Invasion, also noch im Frühjahr 2022, seien verwundete Soldaten in großer Zahl über die Grenze nach Belarus zurückgeschickt worden. Die dort arbeitenden Ärzte seien in einen Krieg hineingezogen worden, für den sie sich nicht gemeldet hatten. Von ihren Operationstischen aus hätten sie das Ausmaß der russischen Verluste der ersten Kriegswochen in der Ukraine deutlich zu spüren bekommen.
Russlands Verluste im Ukraine-Krieg in Belarus wohl früh spürbar
So seien sie direkt mit den Schrecken des Krieges konfrontiert gewesen: Junge, von Granatenexplosionen geschockte Soldaten, die gedacht hätten, sie würden zu Übungen geschickt, nur um dann festzustellen, dass sie in einem Krieg, auf den sie nicht vorbereitet waren, ein Körperglied verloren hatten. „Es gab mehr Verwundete, die eine Operation brauchten, als wir Operationstische hatten“, erklärte Andrej. „Die Russen gaben uns einfach ihre Verletzten und kümmerten sich nicht um sie“. Bei den meisten habe es sich um junge, unerfahrene Soldaten und Wehrpflichtige aus entlegenen Teilen Russlands gehandelt.
Je länger der Ukraine-Krieg andauert, desto schwieriger wird offenbar zudem die Versorgung mit medizinischen Gütern. Einer Veröffentlichung der investigativen russischen Internetzeitung The Insider zufolge kommt es regelmäßig zu Engpässen bei Narkose- und Schmerzmitteln. „Der Zustrom von Verwundeten reißt nicht ab, der Medikamentenverbrauch ist enorm“, habe eine Krankenschwester im Feldlazarett geklagt. Es fehle jedoch nicht nur an Medikamenten, sondern auch an medizinischen Instrumenten, beispielsweise für Amputationen - eine der am häufigsten durchgeführten Operationen.
Russlands Soldaten in Not: „Sie wurden auseinandergerissen“ – Amputation häufigste Behandlung
Ein großer Teil der Verletzungen werde durch Landminen und Explosionen verursacht. Häufig sei es unmöglich, die verletzten Gliedmaßen zu retten. Dies liege nicht nur an der Art der Verletzungen, sondern auch an Fehlern der Sanitäter bei der Erstversorgung an der Front und der Unfähigkeit der Soldaten, Tourniquets richtig anzulegen. Auch das Fehlen solcher hochwertiger Abbindesysteme in den militärischen Erste-Hilfe-Kästen sei problematisch. Teilweise gebe es in den Operationssälen auch keine Klimaanlagen - trotz direkter Sonneneinstrahlung.
Wie viele Soldaten Russland seit Beginn des Krieges verloren hat, verschweigt Präsident Wladimir Putin. Die von den US-Geheimdiensten veröffentlichte Zahl von etwa 87 Prozent entspricht jedoch rund 360.000 Menschen. Allein auf russischer Seite. Auch wenn es in Russland nur schwer möglich ist, seine Meinung zu Thema kundzutun, zeigen abgefangene Telefonate russischer Soldaten, dass sie die Zustände satt sind. Das berichtet unter anderem Reuters.
„Sie wurden auseinandergerissen. Sie liegen da: Einige können sie nicht einmal einsammeln. Sie sind bereits verrottet - von Würmern zerfressen“, sagte ein Soldat seiner Mutter in einem solchen Telefongespräch. Die russische Doktrin, einfach Wellen von Soldaten auf die Feinde zu werfen, hat Bestand. Die Frage ist, wie lange noch. (tpn)