Schnelles Ende oder langes Leiden: Putins Soldaten werden von ihren Offizieren belogen
Schnelles Ende oder langes Leiden: Putins Soldaten werden von ihren Offizieren belogen
Russlands Soldaten begehren dagegen auf, verheizt zu werden – sie suchen den Sinn des Krieges. Von ihren Offizieren werden sie immer wieder enttäuscht.
Awdijiwka – Am 24. Februar soll der Krieg beendet sein; Maria traute ihren Ohren fast nicht. Aber die Abhör-Expertin der Ukraine (Name ist ein Pseudonym) hatte richtig verstanden: „Nun ja, es gibt Gerüchte, dass wir früher nach Hause gehen, auch wenn alles hier bis zum 24. Februar andauern mag“, sagte die Stimme, die sich vorher als ranghoher Offizier zu verstehen gegeben hatte. Die Kiew Post berichtet jetzt von einem abgehörten Telefonat zweier Soldaten aus Russland, in dem der Satz gefallen war.
Die stille Rebellion unter den im Ukraine-Krieg eingesetzten Truppen Wladimir Putins wird lauter. In dem mitgeschnittenen Telefonat, von dem die Kiew Post berichtet, klagte der Soldat, seine Kameraden und er auf ein Himmelfahrtskommando entsandt worden waren von ihren Kommandeuren, die ihn später verhafteten, weil er sich über den Vorfall beschwert hatte. In dem von der ukrainischen Militärgeheimdienstdirektion (HUR) veröffentlichten Gespräch erzählt der Mann seinem Freund Sanya, dass seine Kompanie inmitten von vernichtendem ukrainischen Feuer geriet, weil ihnen die für einen Gegenangriff nötige Artillerie fehlte.
Maschinengewehre und Mörser: Russische Soldaten in der Falle
„Auf der einen Seite des Steinbruchs Maschinengewehre; auf der anderen Seite Drohnen und zwei verdammte Mörser. Die Ukrainer begannen, von zwei Seiten auf uns einzuschlagen. Sie haben uns total in den Arsch getreten. Ununterbrochenes Feuer von buchstäblich überall; Wir rennen wie Idioten hin und her. Niemand weiß, wohin er gehen soll. Es war eine totale Katastrophe“ – der Mitschnitt des Telefonates des russischen Infanteristen in der Kiew Post ist an sich bereits erschütternd. Aber gegenüber seinem Kameraden Sanya berichtet der unbekannte Soldat noch Bezeichnenderes.
Der Soldat habe sich an seinen Bataillonskommandeur gewandt und offenbar gefragt, wer für den kriminellen Befehl verantwortlich zu machen wäre und warum ihnen verweigert worden sei, bei Awdijiwka die Leichen gefallener Kameraden zu bergen – was ihm letztendlich dann einige Tage Arrest eingebracht haben soll; allerdings war auch der Bataillonskommandeur derjenige, der ihm gegenüber die Vermutung eines schnellen Kriegsendes geäußert hatte; auch das ist in der russischen Armee bereits ein Straftatbestand. Befehlsverweigerung oder Defätismus werden mittlerweile mit zehn bis 15 Jahren Arrest geahndet.
Putins Blutzoll: Ukraine rechnet mit fast 400.000 gefallenen russischen Soldaten
Das Dilemma Russlands hat Markus Reisner in der Zeitschrift Sirius analysiert: Starke Infanterie ist notwendig, um die vormarschierenden mechanisierten Kräfte begleiten und schützen zu können. Das gilt vor allem für die schweren Häuserkämpfe in Mariupol, Popasna, Marinka und Bachmut. Diese Herausforderung versuchen die russischen Streitkräfte durch laufendes Heranführen von mobilisierten Soldaten zu meistern. Gegen die bisherige russische defensive Schwäche versucht die ukrainische Seite, den durch die Gegenoffensiven bei Charkiw und Cherson gewonnenen Vorsprung beizubehalten. Russische Truppen bluten also sukzessive aus, ohne dass dieser Abnutzungskrieg für den einzelnen Soldaten Erholung zuließe.
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Im Gegenteil ist das die gegenwärtige Taktik der ukrainischen Armee, wie der deutsche Politikwissenschaftler Carlo Masala gegenüber dem Hamburger Abendblatt jetzt am Beispiel Awdijiwka geäußert hat: „Die Ukrainer werden, so erwarte ich es, die Stadt Awdijiwka demnächst taktisch aufgeben. Denn der eigentliche Sinn, Awdijiwka solange zu halten, war so viel russisches Material und so viele russische Truppen wie möglich zu zerstören.“
Aktuell gehen ukrainische Behörden von fast 400.000 russischen Gefallenen aus. Unbestätigten Angaben des russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu zufolge verfügt Russland über bis zu 25 Millionen Reservisten. Bis 2026 soll die reguläre Armee um rund 400.000 auf dann 1,5 Millionen Soldaten wachsen.
Prügel durch russische Offiziere: Der Feind steckt in den eigenen Reihen
Das Menschenbild der russischen militärischen Führung pointiert Andreas Rüesch in der Neuen Zürcher Zeitung: „Russland behandelt seine Truppen wie den letzten Dreck – als Verbrauchsware Soldat.“ Das wiederum bringt den Verteidigern einen enormen psychologischen Schub, erklärt Reisner: „Bei der Motivation sind die Truppen von Präsident Wolodymyr Selenskyj im Vorteil, das hat der Verlauf des Kriegs gezeigt. Schließlich verteidigen die Männer und Frauen in der ukrainischen Armee Haus und Hof sowie das Leben ihrer Familien – sie wissen sehr genau, wofür sie kämpfen. Russlands Soldaten an vorderster Front können mit Wladimir Putins Kriegszielen dagegen wenig anfangen, sind sich Fachleute einhellig sicher.“
Dazu Christian Göbel, Oberstleutnant der Reserve am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften in Potsdam im Bundeswehr-Podcast Nachgefragt: „In Russland gibt es leider noch immer zum Beispiel die sogenannte „Dedowtschina“ („Herrschaft der Großväter“), die bezeichnet die extreme Schikane von jüngeren durch ältere Soldaten; Offiziere misshandeln zudem Untergebene, es gibt das Gewaltregime generell oder Soldatenmisshandlung untereinander; Kadavergehorsam soll eingeprügelt werden.“ Göbel zitiert in diesem Zusammenhang den ehemaligen russischen Reserve-Offizier und heutigen Autoren Michail Schischkin: „Die russische Armee war und bleibt eine ,Schule der Sklaven‘, in der ältere Soldaten praktisch unbeschränkte Macht über neue Rekruten haben“, wie Schischkin schreibt.
Trotz Putins Propaganda: Die Russen wollen ein Ende des Krieges – zu ihren Bedingungen
Der Militärgeheimdienst der Ukraine (HUR) veröffentlicht regelmäßig Ausschnitte abgehörter Anrufe, die einen aufschlussreichen und oft schockierenden Einblick gewähren in die Bedingungen, mit denen russische Soldaten an der Front konfrontiert sind. Viele beschreiben die Vernichtung ganzer Einheiten durch sinnlose Angriffe. Einige Telefonate thematisieren Vorfälle, in denen Soldaten, die dem Krieg nicht gewachsen sind, sich auf eigene Faust zurückziehen – desertieren.
Jeder zweite Russe stehe den offiziellen Nachrichten über den Verlauf der Militäroperation inzwischen skeptisch gegenüber, behauptet Artemij Wwedenskij, Gründer der unabhängigen Meinungsforschungsgruppe Russian Field, gegenüber der Tagesschau. Generell, so Wwedenskij, mache sich eine gewisse Ermüdung breit. Erstmals hätten sich mehr Befragte für Friedensgespräche als für eine Fortsetzung der Militäroperation ausgesprochen. „Die Leute wollen, dass es endet“, so Wwedenskij. Allerdings – auch das ließe sich aus den Umfragen herauslesen – nicht auf Kosten Russlands. Einen Abzug ohne Wenn und Aber würde nur eine Minderheit befürworten, sagt der Meinungsforscher.
Andere Gespräche offenbaren zudem die Diskrepanz zwischen der realen Kriegssituation und dem, was russische Soldaten für wahr halten. Ein abgehörtes Telefonat zwischen einem russischen Soldaten und seiner Mutter deutet darauf hin, dass die Soldaten auf eine lange währende Mission konditioniert werden, wie der Soldat freimütig berichtet: „Im Grunde sagen sie uns, dass diese verrückte Situation bis 26 anhalten wird. Russland wird ‚Territorien zurückerobern‘.“ (Karsten Hinzmann)