Düsterer Meilenstein: Putin verliert so viele Soldaten wie nie zuvor im Ukraine-Krieg

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Russland kennt nur den Angriff – koste der, was er wolle: Aktuell hat Putins Armee an einem Tag den höchsten Blutzoll seit Beginn der Invasion gezahlt: Mehr als 2.000 Kräfte sind innerhalb von 24 Stunden gefallen. © IMAGO / ITAR-TASS / Alexei Konovalov

Lügen, Pflichtgefühl, Kadavergehorsam, drakonische Strafen – Russlands Armee baut auf Menschenverachtung. Der Preis dafür wird offenbar täglich höher.

Moskau – „Er hatte kein leichtes Schicksal, aber er erfüllte seine Pflicht gegenüber dem Vaterland“, steht in dem Nachruf. Der so Betrauerte ist 45 Jahre alt geworden und bedeutet Wladimir Putin zu Lebzeiten wenig. Bedeutung beigemessen hat ihm jetzt Daniel Hardaker, der für den britischen Telegraph darüber berichtet, was das Magazin Newsweek zum „düsteren Meilenstein“ erkoren hat: den Tag, an dem Russland mehr als 2.000 Kräfte verloren hat. So viele, wie noch nie innerhalb von 24 Stunden seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine.

Nach Recherchen der britischen BBC in Kooperation mit dem unabhängigen russischen Sender Mediazona soll Russland vornehmlich Sträflingseinheiten verheizen. Der 45-jährige Namenlose sei ein zweifach verurteilter Mörder gewesen und habe weder Lesen noch Schreiben gekonnt. „Es heißt, er habe im Juni einen Vertrag mit dem Militär unterzeichnet und sei zwei Monate später in der ukrainischen Region Donezk an einer Granatsplitterverletzung gestorben“, schreibt Hardaker.

Putins Blutzoll: Moskaus Truppen haben wohl im Verlauf eines Tages 2.030 Kräfte verloren

Wie der Kiew Independent aktuell berichtet, habe der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte gemeldet, Moskaus Truppen hätten im Verlauf eines Tages 2.030 Kräfte verloren. „Dies übertrifft den bisherigen Rekord von 1.950, der am 12. November aufgestellt wurde. Die Gesamtzahl beträgt 738.660“, schreibt der Kiew Independent aufgrund der von der Ukraine gemeldeten Zahlen.

„Nicht politische Ideologien, sondern Kleingruppenerfahrungen sind entscheidend für die Kampfkraft von Soldaten, ihre Tötungsbereitschaft wie ihre Durchhaltefähigkeit. Neben dem Vertrauen in die Kompetenz der Offiziere ist es vor allem die Erfahrung von Kameradschaft, die eine Truppe zusammenhält und sie auch dann noch weiterkämpfen lässt, wenn die politisch-militärische Lage aussichtslos geworden ist.“

Laut dem Telegraph bestünde inzwischen für Strafgefangene, die dort um ihre Freiheit kämpfen, die Verpflichtung, dass sie bis zum Kriegsende dienen müssten. Der Kreml steht vor der Herkulesaufgabe, seine kräftezehrenden Angriffe durch frische Soldaten aufzufüllen. „Russland beginnt eigentlich erst hinter dem Ural – in Städten, deren Namen Sie vermutlich noch nie gehört haben, mit Straßen, die bis heute nicht asphaltiert sind“, sagt Markus Reisner. Der Oberst des österreichischen Bundesheeres hatte jüngst im Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr eine Lagebeurteilung abgeben; die fiel desaströs aus.

„Dort sind 50.000 Euro mit einer Bonuszahlung von bis zu 16.000 Euro viel Geld – das Fünffache vom Durchschnittseinkommen. Und der Buryate als eine von 160 Ethnien in Russland weiß nicht, was ihn an der Front erwartet. Und wenn er dann dort ist, dann ist es zu spät. Und wenn der sich umdreht, dann steht dort wie vor 80 Jahren ein Kommissar und zeigt ihm den Weg an die Front.“ Reisner zufolge schiebe der Russe nach – bis zu 30.000 Mann pro Monat. „Die schaffen das; auch nicht unbegrenzt, aber vielleicht ein bisschen länger als die Ukraine.“

Ukraine-Krieg als Falle für Arbeitsuchende: genötigt gefühlt, als Vertragssoldat anzuheuern

Russland rekrutiere Bürger aus Entwicklungsländern für den Krieg gegen die Ukraine und biete dabei mehr als nur gute Bezahlung, hatte im August die Deutsche Welle berichtet. Nordkoreanische Truppen sind offenbar nur eine Quelle, aus denen Wladimir Putin ausheben lässt, um die eigene Bevölkerung von den menschlichen Kosten seines völkerrechtswidrigen Feldzugs freizuhalten. Was Markus Reisner über Russlands eigene Ethnien berichtet, gilt laut DW-Autorin Hanna Sokolova-Stekh wohl auch für Bedürftige aus anderen unterentwickelten Regionen: Sie werden belogen, was ihr künftiges Schicksal betrifft; ihnen wird eine Perspektive vorgegaukelt.

„Als ein 21-jähriger Mann aus Walasmulla in Sri Lanka einen Vertrag mit dem russischen Verteidigungsministerium unterzeichnete, um der russischen Armee beizutreten, rechnete er nicht damit, an die Front in die Ukraine geschickt zu werden“, schreibt Sokoliva-Stekh. Ein Bekannter hatte ihn in die Streitkräfte gelockt, mit der Aussicht auf Erteilung der russischen Staatsbürgerschaft – er sollte aber eher als Helfer eingesetzt werden anstatt als Frontkämpfer, wie der Betroffene der Deutschen Welle berichtet habe.

Er habe sich nach eigenen Angaben schließlich genötigt gefühlt, als Vertragssoldat anzuheuern. Allerdings erhielt er ein Handgeld von umgerechnet 1.800 Euro sowie das Versprechen eines Gehalts von umgerechnet 2.100 Euro monatlich. Die wirtschaftliche Misere in seinem Heimatland hatte ihn vorher zur Beantragung eines Arbeitsvisums für Russland verführt. Über verschiedene berufliche Stationen und der Illegalität in Russland nach Ablauf seines Arbeitsvisums sei er dann in die Armee eingetreten und doch an die Front gekommen; für eine Weigerung seien im 15 Jahre Haft angedroht worden.

Russlands Armee der Ahnungslosen: Bürger aus Nepal, Indien, Kirgisistan, Tadschikistan – und dem Jemen

Er fügte hinzu, dass sich in seiner Einheit auch Bürger aus Nepal, Indien, Kirgisistan und Tadschikistan befänden. Der Mann sagte, er sei nur einmal für fünf Tage an die Front geschickt worden, wo er verwundet und gefangen genommen wurde und danach seine Geschichte offenbarte. Ihn hatte getrieben, was auch einen anderen Befragten der Deutschen Welle in die russische Armee hat eintreten lassen – ein 35-jähriger Nepalese, der gegenüber der DW geäußert hatte, „er sei sehr, sehr arm‘“. Als monatlichen Verdienst hatte der vormalige Taxifahrer umgerechnet 358 Euro monatlich angegeben – davon habe er seine Frau, zwei Kinder und seine Eltern durchbringen müssen.

Freunde in Indien sollen ihm gesagt haben, in der russischen Armee könne er sein Glück machen; auch er unterschrieb einen Ein-Jahres-Vertrag, auch er war aus diesem Vertrag nicht mehr herausgekommen, auch er wurde verwundet und gefangengenommen.

Das Investigativ-Portal Meduza berichtet jetzt von dem Recherche-Ergebnis vom BBC Russian Service und dem Sender Mediazona, nach dem die Identitäten von 80.973 russischen Kämpfern bestätigt seien, die seit dem Einmarsch im Februar 2022 in der Ukraine gefallen sind – mehr als die Hälfte dieser Opfer – 52 Prozent – hätten vor der Invasion „keinerlei Verbindung zum russischen Militär“ gehabt, wie Meduza berichtet. „In dem aktualisierten Bericht stellten sie fest, dass der ,rasante Anstieg der Verluste‘ unter freiwilligen Militärangehörigen anhält“, wie Meduza schreibt. Offenbar zieht Wladimir Putin seine Kreise jetzt auch weiter – die Financial Times (FT) berichtet, dass Russland inzwischen ebenfalls im Jemen Freiwillige rekrutiere.

Als Russlands Götzen gelten die Toten: „Die Verluste sind Teil eines heroischen Opferethos“

Das scheine bereits im Juli begonnen zu haben, schreiben die FT-Autoren Charles Clover, Andrew England und Christopher Miller. Ein der FT vorliegender Anwerbungsvertrag sei vom 3. Juli datiert und vom Leiter eines Auswahlzentrums für Zeitsoldaten in der Stadt Nischni Nowgorod gegengezeichnet. „Jemenitische Rekruten, die nach Russland reisten, sagten der Financial Times, man habe ihnen gut bezahlte Jobs und sogar die russische Staatsbürgerschaft versprochen. Als sie mithilfe eines mit den Huthi verbundenen Unternehmens eintrafen, wurden sie zwangsweise in die russische Armee eingezogen und an die Front in der Ukraine geschickt“, schreibt das Blatt.

Was im Krieg trotz aller Technisierung zählt, ist die Wertschätzung des Individuums, die die russische Militärdoktrin komplett ignoriert; wie das auch der Politikwissenschaftler Herfried Münkler in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (F.A.Z.) in seiner Rezension des Buchs „Soldaten“ des Militärhistorikers Sönke Neitzel zusammenfasst: „Nicht politische Ideologien, sondern Kleingruppenerfahrungen sind entscheidend für die Kampfkraft von Soldaten, ihre Tötungsbereitschaft wie ihre Durchhaltefähigkeit. Neben dem Vertrauen in die Kompetenz der Offiziere ist es vor allem die Erfahrung von Kameradschaft, die eine Truppe zusammenhält und sie auch dann noch weiterkämpfen lässt, wenn die politisch-militärische Lage aussichtslos geworden ist.“

Der gewaltsame Tod scheint Teil der russischen Seele zu sein, wie Andrei Kolesniko dem britischen Guardian gegenüber geäußert hat. Möglicherweise weil die Russen sonst wenig haben, wie der Moskauer Politikanalyst nahelegt: „Die Verluste sind Teil eines heroischen Opferethos, das der Gesellschaft aufgezwungen wird und für viele zu einer Quelle des Stolzes geworden ist.“

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