Ukraine-Krieg: Selenskyj setzt auf „Smart-Mobilmachung“ gegen Putins Truppen

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Ukraine-Krieg: Selenskyj setzt auf „Smart-Mobilmachung“ gegen Putins Truppen

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Ein Werbeplakat in Dnipro, das die Menschen dazu aufruft, sich den Streitkräften der Ukraine anzuschließen. © Mykola Myakshykov/Imago

Die Ukraine will ihr Rekrutierungs- und Einberufungssystem zentralisieren. Es wird für Wehrpflichtige schwieriger, sich „unsichtbar“ zu machen. In Friedenszeiten soll es aber keine Wehrpflicht geben.

70.000 ukrainische Soldaten und Soldatinnen sind nach einem Bericht des Economist bisher im Krieg gefallen, 120.000 wurden verletzt. Insgesamt dienen derzeit in den gesamten Streitkräften des Landes rund eine Million Menschen. Und zumindest auf dem Papier ist noch ein Mobilisierungspotenzial von sieben bis acht Millionen Menschen übrig. So zynisch es klingt: Auch im länger andauernden Krieg gehen dem Land die personellen Reserven nicht so schnell aus. Doch Russland hat trotz höherer Verluste immer noch ein größeres Mobilmachungspotenzial, es liegt etwa dreimal so hoch wie in der Ukraine.

Für Kiew ist deshalb ein funktionierendes Rekrutierungssystem wesentlich. Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj hat es als einen der wichtigsten Punkte für robuste Streitkräfte genannt, als er für den Economist die aktuelle militärische Lage beschrieb. 

Nach der russischen Vollinvasion profitierte die Ukraine vom sogenannten System der operativen Reserve: Es ging um rund 600.000 Menschen mit Militärerfahrung, etwa aus vorigen Jahren des Donbass-Krieges, die im Kriegsfall zuerst eingezogen werden. Die von Medien gerne gezeigten Schlangen vor Einberufungsämtern bestanden zu einem guten Teil aus ihnen, obwohl es durchaus auch Freiwillige ohne Militärerfahrung gab. Viele wurden aber entweder gar nicht erst genommen oder spätestens nach dem Rückzug der russischen Armee aus den Gegenden vor Kiew Ende April 2022 nach Hause geschickt. Vorerst.

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Häufig unklar, wo sich Wehrpflichtige befinden

Nach fast 21 Kriegsmonaten müssen sowohl erfahrene als auch für die Sommeroffensive ausgebildete gefallene und verwundete Soldaten ersetzt werden. Auch eine stärkere Rotation der Soldaten ist ein großes Thema – denn seit der Vollinvasion kämpfen nicht wenige ununterbrochen. Die Einberufungsämter stoßen aber auf das Problem, dass viele wehrpflichtige Männer quasi unsichtbar sind. Zum einen müssen diese einen geänderten Wohnort den Einberufungsämtern ohnehin nicht zwingend melden. Zum anderen sind nach dem 24. Februar 2022 noch Millionen Binnenflüchtlinge umgezogen, viele haben sich am neuen Ort nicht bei den Militärstellen registrieren lassen.

Zunächst einmal versuchte man es, mit der Verteilung der verpflichtenden Vorladungen zur Datenaktualisierung direkt auf der Straße, mehr Menschen zu erfassen. Obwohl es dabei meistens tatsächlich nicht gleich um die Einberufung ging, kam es dabei zu vielen Konflikten. In größeren Städten entstanden anonyme Telegram-Kanäle, in denen sich die Menschen über die Bewegungen der Mitarbeiter der Einberufungsämter – umgangssprachlich Kriegskommissariate – gegenseitig informierten. Außerdem versuchte das Verteidigungsministerium die Männer mit der groß angelegten Werbekampagne namens „Mut besiegt die Angst“ dazu zu bewegen, sich freiwillig zu melden.

Nach solchen provisorischen Lösungen soll es nun eine langfristige und viel umfassendere geben. Im Kern geht es um:

  • Zentralisierung der Daten Wehrpflichtiger
  • Freiwillige Bewerbungen über Headhunter-Agentur
  • Berufsarmee in Friedenszeiten
  • Militärische Vorbereitung statt Wehrdienst

Das Verteidigungsministerium unter der Führung des neuen Ministers Rustem Umerow hat zusammen mit dem Digitalministerium das elektronische Register der Wehrpflichtigen entwickelt. Einsatzbereit ist es, das Parlament muss seiner Einführung noch zustimmen – das gilt als Formsache. In dieses Register fließen Daten aus verschiedenen Behörden, inklusive des Finanzamtes und des Migrationsdienstes, der Umzüge innerhalb des Landes und Einreisen ins Land registriert. Auf diese Daten sollen die Einberufungsämter Zugriff erhalten.

Die Digitalisierung soll nicht zuletzt auch Korruptionsrisiken minimieren. Im Register werden vor allem Männer zwischen 18 und 60 Jahren und auch einige Frauen mit bestimmten medizinischen Kenntnissen geführt, auch sie gelten als wehrpflichtig. Dies war schon vor der Vollinvasion geplant. Eine Ausreisesperre wie bei Männern haben die Frauen nach aktuellem Stand nicht.

Die Reform geht noch weiter

Neben der klassischen Rekrutierung durch Einberufungsämter, die immer noch durch die Sowjetzeit geprägt sind, soll es zukünftig auch sogenannte „Smart-Mobilmachung“ geben. Für das Projekt wurde eine prominente ukrainische Headhunter-Agentur verpflichtet (LobbyX) und auch das Verteidigungs- und das Digitalministerium arbeiten daran mit.
Die Idee: Eine Person bewirbt sich zunächst freiwillig online gemäß ihrer Fähigkeiten für einen selbst ausgewählten Einsatzbereich. Nach dem erfolgreichen Abschluss eines Online-Tests folgt ein Vorstellungsgespräch mit einem Headhunter, dann die Ausbildung, die mindestens einen Monat lang dauert. Läuft alles erfolgreich ab, kommt man in die Position und Einheit, für die man sich ursprünglich beworben hatte. Die Einberufungsämter bleiben bei dem Prozess komplett außen vor.

Skepsis gegenüber Einberufungsämtern

In rund zwei Monaten beginnt das Pilotprojekt für Drohnenpiloten. Später kommen weitere Einsatzbereiche hinzu. Laut dem Digitalminister Mykhailo Fedorow steckt hinter der Idee des Projekts die Vermutung, dass es Menschen gibt, die eigentlich nichts gegen einen Armeedienst hätten, jedoch skeptisch auf Einberufungsämter blicken. Sie fürchteten, in einer ungeeigneten Einheit und im schlimmsten Fall fast ohne Ausbildung an die Front zu gelangen. „Wir wollen diese Hypothese testen“, sagte Fedorow gegenüber ukrainischen Medien. Aus dem Verteidigungsministerium wird das Projekt als „sehr vielversprechend“ gelobt.

Headhunting statt Einberufung ist auch der zentrale Punkt des neuen Konzepts der militärischen Personalpolitik bis 2028. Minister Umerow hat es Anfang des Monats vorgestellt. In Friedenszeiten werden die ukrainischen Streitkräfte zu einer Vertragsarmee. Die allgemeine Wehrpflicht soll durch die verpflichtende intensive militärische Vorbereitung für Bürger im wehrpflichtigen Alter ersetzt werden. Bei der Rekrutierung sollen Männer und Frauen zudem gleiche Chancen bekommen. Was das konkret bedeutet, ist aber bisher kaum definiert.

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