Wegen Verlusten im Ukraine-Krieg: Putin rennen Wehrpflichtige weg – Neues System soll helfen

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Immer mehr Russen sterben im Ukraine-Krieg. Putin will deswegen verhindern, dass Wehrpflichtige aus Russland fliehen. Helfen soll eine Software.

Moskau – Westliche Schätzungen der russischen Verluste im Ukraine-Krieg gleichen sich zunehmend an. Ihr Tenor: Mindestens hunderttausend russische Militärangehörige sollen bereits gestorben sein, während sie Wladimir Putins völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in die Ukraine trugen. Die jüngste Zusammenschau verschiedener Datensätze durch den britischen Economist lässt darauf schließen, dass zwischen Februar 2022 und Mitte Juni 2024 sogar 462.000 bis 728.000 russische Soldaten kampfunfähig wurden, weil sie starben oder schwer verletzt wurden.

Die Verluste sind horrend, das schildern auch Soldaten aus Russland, und laut dem unabhängigen russischen Medium Mediazona wurden seit Putins Invasion bereits über 9000 Personen angeklagt, weil sie sich unerlaubt von ihrer Einheit entfernt hatten. Deswegen braucht der Kreml neue Rekruten. Damit die ihm nicht weglaufen, bevor sie ausgebildet werden können, setzt die russische Führung nun auf eine Software zum „elektronischen Datenaustausch“ zwischen dem Verteidigungsministerium und dem Föderalen Sicherheitsdienst (FSB). Das berichtete das unabhängige russische Nachrichtenportal Meduza.

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Russland will die Flucht potenzieller Rekruten für den Ukraine-Krieg verhindern. © Alexandr Kryazhev/Imago

Neue russische Software gegen Wehrpflichtigen-Flucht im Angesicht der Verluste

Im September 2022 ordnete Wladimir Putin die im Ukraine-Krieg erste und bisher einzige Teilmobilmachung von 300.000 Reservisten an. Sie provozierte einen Exodus junger Russen, insbesondere aus den Städten, der die russische Gesellschaft wichtige qualifizierte Arbeitskräfte kostete. Noch im selben Monat berichtete die unabhängige russische Zeitung Nowaya Gazeta, dass bereits 261.000 Russen das Land verlassen hätten.

Seitdem betonen Putin und seine Gehilfen stetig, dass keine weitere Mobilmachung nötig sein werde, da sich genügend Personen als Zeitsoldaten oder Freiwillige der Armee anschlössen. Alleine 2023 hätten sich laut Sergei Schoigu, dem damaligen Verteidigungsminister Russlands, bis Oktober 335.000 Menschen auf diese Weise verpflichtet. Jüngst schrieb die New York Times unter Berufung auf US-Regierungsbeamte, dass Russland monatlich 25.000 bis 30.000 neue Soldaten rekrutiere. Zusätzlich werden zweimal im Jahr – üblicherweise ab dem 1. April und noch einmal ab dem 1. Oktober – auch Wehrpflichtige eingezogen.

Der FSB weiß Bescheid: Bald kommen Wehrpflichtige nicht mehr außer Landes

Dem Kreml zufolge werden sie zwar nicht in der Ukraine oder etwaigen „Spezialoperationen“ eingesetzt. Da Russland die annektierten ukrainischen Oblaste Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja jedoch als eigenes Staatsgebiet betrachtet, könnten Wehrpflichtige dort dennoch zum Einsatz kommen. Außerdem stellen sie einen Pool dar, aus dem nach ihrem Pflichtjahr zukünftige Berufssoldaten rekrutiert werden können. Sie sind also eine wichtige Ressource für die russische Militärmaschinerie.

Deswegen will sich der Kreml nun digitaler Hilfsmittel bedienen, um Wehrpflichtige, die ihren Einberufungsbefehl erhalten haben, erfolgreicher an der Ausreise zu hindern. Seit dem 1. Januar 2024 ist in Russland ein neues Gesetz in Kraft, welches das Maximalalter für die Wehrpflicht von 27 auf 30 heraufsetzt. Es verbietet außerdem allen Männern, das Land zu verlassen, sobald sie einen Einberufungsbefehl erhalten haben. Nachdem dieser Befehl früher per Post entgegengenommen oder vom Arbeitgeber übergeben werden musste, kann er bereits seit April 2023 auch online über das Regierungsportal Gosuslugi zugestellt werden.

Bisher scheint das Problem gewesen zu sein, dass der für den Grenzschutz zuständige Inlandsgeheimdienst FSB nicht immer darüber informiert war, wer einen Einberufungsbefehl erhalten hatte und infolgedessen das Land nicht verlassen durfte. Daher entwickelt das „Voskhod“ Forschungsinstitut, das dem russischen Ministerium für Digitale Entwicklung unterstellt ist, jetzt ein Programm, das Abhilfe schaffen soll. Ziel ist die Übertragung einer regelmäßig zu aktualisierenden Liste mit den relevanten Namen aus dem Einberufungsregister des Verteidigungsministeriums an das föderale Datenverarbeitungszentrum des FSB-Grenzdienstes.

Ähnliche Maßnahmen: Auch die Ukraine leidet unter Soldaten-Mangel

Währenddessen hat die Ukraine mit ähnlichen Problemen zu kämpfen. Dort ist es seit der russischen Invasion im Februar 2022 allen Männern im Alter von 18 bis 60 Jahren verboten, ihr Land zu verlassen, auch wenn sie noch nicht zum Dienst an der Waffe einberufen wurden. Somit fällt es in dem angegriffenen Staat zwar leichter als bisher in Russland, zu kontrollieren, wer ausreisen darf. Dass die Ukraine dennoch Probleme damit hat, ausreichend Soldaten zu rekrutieren, ist kein Geheimnis: Der Generalstab ihrer Streitkräfte verlangte Ende 2023 die Mobilisierung von 500.000 weiteren Soldaten.

Im vergangenen April unterzeichnete Präsident Wolodymyr Selenskyj ein neues Rekrutierungsgesetz, welches das minimale Einberufungsalter von 27 auf 25 Jahre senkt und alle 18- bis 60-Jährigen verpflichtet, sich ins Wehrregister einzutragen. Es hebt – wie in Russland – die Pflicht auf, den Einberufungsbescheid physisch zustellen zu müssen und sieht außerdem neue Sanktionen für Wehrdienstverweigerer vor: Sie können ihren Führerschein verlieren, ihre Bankkonten können eingefroren und ihr Eigentum beschlagnahmt werden.

Im selben Monat setzt das Außenministerium konsulare Dienste wie das Ausstellen neuer Pässe für Ukrainer aus, die im Militärdienst-Alter sind, aber im Ausland leben. Man wolle damit der Fairness in der Gesellschaft Rechnung tragen, hieß es von der Regierung in Kiew. Wer seinem Staat zeige, „dass er sich nicht um sein Überleben schere“, der habe auch keine staatlichen Dienste verdient, so Außenminister Dmytro Kuleba.

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