„Ich will nicht gehen“: Junge Ukrainer sorgen sich vor neuer Mobilisierung und suchen nach Ausweg

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Die Ukraine braucht Soldaten und hat die Altersgrenze für Reservisten nun auf 25 Jahre gesenkt. Viele sorgen sich vor neuen Mobilisierungen – die Jugend will nicht in den Krieg.

Kiew – Es ist wie der Kampf Davids gegen Goliath. Seit mehr als zwei Jahren verteidigt sich die Ukraine gegen die russischen Invasoren und bietet dabei einem scheinbar übermächtigen Gegner die Stirn, der theoretisch viel mehr Soldaten an die Front schicken kann. Angesichts von rund 144 Millionen Einwohnern schöpft Russland trotz großer Verluste im Krieg schließlich aus einem deutlich größeren Reservoir verfügbarer Kräfte als die Ukraine (38 Millionen Einwohner), die in den vergangenen Monaten stark in die Defensive geraten ist und derzeit ums Überleben kämpft.

Den Ukrainern mangelt es dabei nicht nur an Waffen und Munition, sondern eben auch an Männern und Frauen für den Kriegseinsatz. Zwischen 450.000 und 500.000 neue Soldaten wollte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mobilisieren und auch wenn er mittlerweile von dieser Zahl wieder abgerückt ist, zeichnet sich dennoch ab: Um im Ukraine-Krieg langfristig zu bestehen, braucht die Ukraine mehr Kämpfer und wird diese wohl auch gegen deren Willen rekrutieren müssen.

Nach der Unterzeichnung eines neuen Gesetzes steigt nämlich gerade unter jungen Menschen die Angst, bald an die Front zu kommen – mit Tipps und Tricks aus einschlägigen Telegram-Kanälen versuchen sie den Rekrutierungsagenten im Land zu entgehen.

Wolodymyr Selenskyj besucht ukrainische Soldaten, die im Ukraine-Krieg verwundet wurden. 27. März 2024.
Um sich gegen Russland zu verteidigen, brauchen die Ukraine und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (links) neue Soldaten. Viele Soldaten sind gefallen oder verwundet worden oder kämpfen seit mehr als zwei Jahren ununterbrochen und benötigen eine Pause. © IMAGO/Ukraine Presidency via Bestimage

Junge Ukrainer wollen Rekrutierung für Ukraine-Krieg umgehen

Darüber schrieb die britische Sunday Times am Samstag (6. April). Im Kiewer Szeneviertel Podil hat die Zeitung junge Menschen getroffen, die auf den Tanzflächen der wiedereröffneten Nachtclubs den Krieg vergessen wollen, und doch immer stärker in Bedrängnis geraten, zu den Waffen gerufen zu werden. „Ich habe Angst“, zitiert das Blatt einen 31-Jährigen, der stellvertretend für die Gefühlswelt vieler junger Ukrainer stehen könnte. Er lehnt den Fronteinsatz klar ab: „Ich will nicht gehen.“

Dafür hat der junge Videoproduzent laut Bericht vorgesorgt. Um den Rekrutierungsagenten auszuweichen, reise er nur nachts zwischen den Städten umher, und zudem habe er Tausende Euro als Bestechungsgeld für die Rekrutierer angespart. „Ich möchte nicht dienen“, sagt der Mann. „Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll.“

So wie er machen es laut Sunday Times derzeit viele Ukrainer. Auf Telegram suchten Hundertausende junge Leute aus Kiew nach Möglichkeiten, wie sie einer Einberufung entgehen könnten. In dem sozialen Messenger tauschten sich die Nutzer etwa darüber aus, wann und wo Soldaten Einberufungsscheine verteilten. Nicht immer sei dabei klar, ob die Informationen tatsächlich hilfreich seien oder nicht eher die Paranoia ihrer Autoren widerspiegelten.

Selenskyj unterschreibt neues Rekrutierungs-Gesetz – Mindestalter abgesenkt

Tatsächlich sind die Sorgen vieler Ukrainer vor einem baldigen Fronteinsatz nicht unberechtigt. Nach neun Monaten Bedenkzeit hat Selenskyj in der vergangenen Woche einen Gesetzesentwurf unterzeichnet, der das Mindestalter für die Einberufung von Reservisten auf 25 Jahre absenkt. Damit könnte das ukrainische Militär zwei weitere Jahrgänge rekrutieren – rund 400.000 Männer sind betroffen. Auch sollen Männer künftig per Onlinebescheid eingezogen werden können und wer mal als untauglich für den Wehrdienst eingestuft wurde, wird erneut überprüft.

Diese Änderungen finden vor dem Hintergrund einer bevorstehenden russischen Großoffensive und nach monatelangen Diskussionen in der Ukraine über die Rekrutierungsregeln statt. Kritiker der bisherigen Praxis fordern weniger Ausnahmen. Nachdem das ukrainische Verteidigungsministerium vor einigen Monaten Pläne vorgestellt hatte, ins Ausland geflüchtete Ukrainer an die Front zurückzuholen, forderte jüngst dann auch Armeechef Walerij Saluschnyj öffentlich mehr Soldaten – kurz bevor er gefeuert wurde.

Bericht: Männer in der Ukraine werden auf der Straße für Kriegsdienst rekrutiert

Ein Problem für Kiew ist, dass nicht nur gefallene und verwundete Soldaten ersetzt werden müssen, sondern auch all jene eine Pause brauchen, die seit mehr als zwei Jahren teils ununterbrochen im Einsatz gewesen sind. Bislang profitierte das Land von einer operativen Reserve. Neben einigen Freiwilligen ohne Militärerfahrung konnte die Ukraine auf etwa 600.000 Menschen zurückgreifen, die schon vorher gedient hatten.

Jetzt benötigt man neue Soldaten, aber nicht alle sind mit ihrem Wohnsitz registriert und beim Versuch, dies per direkter Erfassung auf der Straße nachzuholen, gab es oft Konflikte. Die Ukraine bemüht sich daher um ein elektronisches Register aller Wehrpflichtigen und will Freiwillige auch per Headhunter-Agentur gewinnen.

Doch noch immer werden Leute wohl direkt auf der Straße angesprochen. Die Sunday Times berichtet etwa von einem 40-jährigen Filmkritiker, der in Lemberg frühmorgens mit dem Hund spazieren war, von Soldaten angehalten und direkt in ein medizinisches Zentrum gebracht wurde. Trotz erhöhtem Blutdruck soll der Mann als kampftauglich eingestuft und zu einem Militärstützpunkt gefahren worden sein. Jetzt verteidigt er Brücken, Eisenbahnen und Straßen in der Ukraine. „Ich wäre ohnehin eingezogen worden, aber ich hätte nicht gedacht, dass es so passieren würde“, zitiert ihn die Zeitung.

Laut Angaben des Blattes gehört der Mann sogar noch zu den jüngeren Menschen in der ukrainischen Armee. Im Schnitt betrage das Alter eines ukrainischen Soldaten 43 Jahre, heißt es im Bericht. Die Ukraine habe versucht, ihren jungen Menschen die Schrecken des Krieges bislang zu ersparen – doch das ist wohl kaum noch möglich.

Geheimdienst: Russland rekrutiert 30.000 Soldaten pro Monat für den Ukraine-Krieg

Denn im Land des Kriegsgegners werden große Anstrengungen unternommen, um Soldaten an die Front zu bringen. Laut ukrainischem Geheimdienst rekrutierte die russische Armee alleine in den besetzten Gebieten in der Ukraine bereits Zehntausende, und neben neuen Kämpfern aus Afrika und Indien sollen den Angaben des Geheimdienstes nach mittlerweile sogar Kranke an die Front beordert werden. Selenskyj sprach kürzlich von 300.000 neuen Soldaten, die Russland bis zum 1. Juni mobilisieren werde – der Kreml widersprach. Wie der britische Geheimdienst berichtete, rekrutiert Moskau derzeit rund 30.000 Menschen pro Monat für den Krieg.

Ob die Ukraine mit jungem Personal nachziehen kann, bleibt abzuwarten. Männer in ihren Zwanzigern und Dreißigern seien in den drei Einberufungszentren in Kiew, die man besucht habe, jedenfalls ein seltener Anblick, heißt es im Zeitungsbericht. „Alle, die bereit waren, sich ehrenamtlich zu engagieren, haben sich bereits angemeldet“, wird ein 52-jähriger Veteran zitiert.

Ein deutlich jüngerer Mann rechnet damit, dass seine Zeit an der Front bald kommen werde. Bislang sei er zu jung gewesen, sagt der 27-Jährige. Ins Ausland gehen, wie seine Mutter vorgeschlagen habe, will er nicht. „Wenn ich einberufen werde, werde ich dienen. Ich habe Angst, aber Russland macht mir noch mehr Angst“, sagt er der Zeitung. (flon)

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