„Einige haben keine Erfahrung mit schulischen Lernformen“: Jeder zweite verlässt Integrationskurse in Deutschland

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Hunderttausende Menschen, die zur Teilnahme an Integrationskursen verpflichtet sind, treten vorzeitig aus, zeigen neue Zahlen der Bundesregierung. Die Probleme sind hausgemacht, sagt ein Sprachexperte.

Berlin – Die Frage, wie Menschen, die nach Deutschland geflüchtet sind, am besten integriert werden können, spaltet die Gemüter. Einig sind sich fast alle Politikerinnen und Politiker in der Forderung, dass junge Geflüchtete in Deutschland schneller in Arbeit gebracht werden müssen. Dazu brauchen diese einen abgeschlossenen Integrations- und Sprachkurs. Doch die Kursaustritte sind enorm hoch, wie aus jüngsten Zahlen der Bundesregierung hervorgeht. Das starre System der Integrationskurse schadet sowohl Geflüchteten wie dem deutschen Arbeitsmarkt, sagt Linguistik-Professor Christoph Schroeder.

Hohe Abbruchquoten bei Integrations- und Sprachkursen

„Ein Integrationskurs muss anders bewertet werden als der Italienischkurs an der VHS“, sagt Schroeder, der sich in seiner Forschung an der Uni Potsdam mit dem Erlernen neuer Sprachen im Kontext von Flucht- und Migrationsbewegungen beschäftigt. „Dort werden Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen zusammengewürfelt, nicht wenige von ihnen haben keine Erfahrung mit schulischen Lernformen.“

Jedes Jahr nehmen in Deutschland Hunderttausende an Integrationskursen teil. Die Austrittsquoten sind hoch, ein Problem für alle Beteiligten.
Jedes Jahr nehmen in Deutschland Hunderttausende an Integrationskursen teil. Die Austrittsquoten sind hoch, ein Problem für alle Beteiligten. © IMAGO/Socrates Tassos

Tatsächlich wird beim Blick auf die Zahlen ein klares Problem deutlich: So haben laut Bundesregierung im Jahr 2023 knapp 275.000 Menschen an einem Sprachkurs teilgenommen, der für Menschen ohne Deutschkenntnisse zum Integrationskurs dazugehört. Etwa 81.000 der Menschen sind im selben Jahr aus Kursen ausgeschieden, die meisten davon wegen Inaktivität. Detailliertere Gründe gibt die Regierung nicht an. Keine neue Entwicklung, bereits seit Jahren ist klar, dass die Abbruchquote an Sprach- und Integrationskursen hoch ist.

Integrationskurse: mehr als die Hälfte tritt aus

Noch dramatischer sieht es bei Integrationskursen aus, an denen in der Regel mehr Menschen als an Sprachkursen teilnehmen. Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nahmen im ersten Halbjahr 2023 etwas mehr als 300.000 Menschen an einem Integrationskurs teil. Mit 176.000 Kursaustritten liegt die Quote im selben Zeitraum bei über 50 Prozent. Die meisten davon waren Ukrainerinnen oder Ukrainer, von denen viele bereits vorzeitig das erforderliche B1-Sprachniveau erreicht haben. Über 100.000 der Austritte jedoch waren wegen Inaktivität oder, weil das gesetzliche Ziel des Integrationskurses nicht erreicht worden ist.

Integrationskurse bestehen aus einem Sprach- und einem Orientierungskurs, in Einzelfällen fällt noch eine Alphabetisierungsklasse an, für die jeweils Abschlusstests nötig sind. Ein abgeschlossener Kurs ist für geflüchtete Schutzberechtigte Voraussetzung, um voll am deutschen Arbeitsmarkt teilnehmen zu können. Zuletzt wurde immer wieder Kritik an den Integrationskursen laut. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann forderte vor Kurzem verpflichtende Teilnahmen für Geflüchtete, mehr Wertevermittlung und neue Prüfungsformen. Tatsächlich sind die meisten Menschen in Integrationskursen schon jetzt zur Teilnahme verpflichtet.

Deutschland legt sich selbst „Zwangsjacke“ an

Für Schroeder von der Uni Potsdam sollten die Kurse nicht anhand der Austrittszahlen bewertet werden, da es dafür ganz unterschiedliche Gründe geben kann. „Die Heterogenität der Kursteilnehmer ist eine große Herausforderung“, so Schroeder, der darauf hinweist, dass viele der Menschen keine Erfahrung mit den hier gängigen schulischen Lernformen haben. Außerdem, so das Argument, sind die familiäre Situation, die gesundheitliche Verfassung und die offene Frage eines Jobs Unsicherheitsfaktoren für Geflüchtete.

Darüber hinaus ist laut Schroeder die starre Form der Kurse ein Problem. „Die Strukturen und die Bürokratie hinter den Sprachkursen unterliegen einer Gründlichkeit, die manchmal übers Ziel hinausschießt.“ So ist es gesetzliche Vorgabe, dass Menschen nur mit Deutschkenntnissen vom Sprachniveau B1 (Selbstständige Sprachanwendung) einen Job annehmen dürfen. Für Schroeder ein Fehler: „Die Erwartung, die wir als Gesellschaft an die Kurse haben, nämlich dass die Menschen am Ende mit einem B1-Zertifikat herauskommen, ist meiner Meinung nach problematisch“, sagt der Wissenschaftler und ergänzt: „Mit der gesetzlichen Voraussetzung des B1-Sprachniveaus haben wir uns selbst eine Zwangsjacke und damit Probleme auferlegt.“

Erschwerter Zugang zum Arbeitsmarkt

Schroeder spricht sich für mehr Flexibilität aus. So soll es etwa Unternehmen ermöglicht werden, auch Menschen ohne B1-Niveau anzustellen und Möglichkeiten zu schaffen, sich im Beruf selbst die nötigen Deutschkenntnisse anzueignen. Diese Forderung stellen vor der wachsenden Herausforderung des Fachkräftemangels auch zunehmen Betriebe und Verbände. „Praxisorientiertere Modelle und Angebote wären hilfreich und eine Überlegung wert“, sagt Schroeder. Denn, so Schroeders Argument, „den Einstieg in die Integration und deren Erfolg nur an der Sprache festzumachen, halte ich für einen Fehler.“

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