„Charakter des Krieges ändert sich“: Putin drängt den Westen, das Feuer neu zu erfinden

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Feuer frei und weg: Der Krieg in der Ukraine lehrt den Westen, dass die Artillerie künftig schneller von Stellung zu Stellung kommen muss – das können am besten radgestützte Systeme wie das französische Caesar. (Archivfoto) © AFP / Sameer Al-Doumy

Tempo ist alles gegen Russland – der Westen lernt in der Ukraine, dass die Kanone auf einen Lastwagen gehört. Nach dem Prinzip: Feuer frei und weg.

Paris – „Die Artillerie ist der Hauptträger des Feuerkampfes in die Tiefe“, sagt Dietmar Felber im Bundeswehr-Podcast Nachgefragt. Vom Ersten Weltkrieg bis zu den regionalen Kriegen im Irak seien die Verluste jeweils zwischen 60 und 80 Prozent auf die Wirkung der Artillerie zurückzuführen, erklärt der Oberst und Leiter der Artillerieschule der Bundeswehr die Bedeutung dieser Waffengattung auch im Ukraine-Krieg. Im Gegensatz zu früheren Kriegen hätten Drohnen und digitale Kommunikation die Kriege schneller gemacht und die Artillerie unter Zugzwang gesetzt: Shoot & Scoot sei das Gebot der Stunde in der Ukraine, also Feuern und Verlegen. Wladimir Putin habe die Welt gelehrt, dass eine Kanone mittlerweile auf das Rad gehört, um im Gefecht zu überleben.

Die Kyiv Post berichtet aktuell davon, dass der Westen umdenkt: dass Haubitzen auf Rädern offenbar gerade hoch im Kurs stehen in der Armee der Ukraine und in der Zukunft die Haubitzen auf Ketten ablösen könnten. Das Auftauchen von auf Lastwagen montierten Geschützen wie dem französischen Caesar war als interessante, aber minderwertige Mischung aus Feuerkraft und Mobilität angesehen worden. „Zwar konnten die Geschütze damit im Allgemeinen schneller verlegt werden als mit ihren gezogenen Gegenstücken, doch Experten waren der Meinung, dass ihnen die Geländegängigkeit von Kettenfahrzeugen fehlte und sie daher anfälliger waren“, schreibt die Post.

Unter Zugzwang: Ereignisse in der Ukraine drängen eine neu gedachte Artillerie auf

Aktuell ist vor allem die US-Armee bestrebt, ihre Artillerie zu modernisieren, wie verschiedene Medien berichten. „Die US-Armee plane, bis zum Jahresende eine neue Strategie für konventionellen Feuerschutz herauszugeben“, sagte James Rainey gegenüber dem Magazin Defense News. Der General leitet das Army Futures Command, die für die Modernisierung der Streitkräfte zuständige Organisation der US-Army, wie Defense News, berichtet. Rainey zufolge, müsse die US-Army ihre Artilleriestrategie sowohl an die „Ereignisse in der Ukraine“ als auch an die Anforderungen der US Army Pacific an konventionelles Feuer anpassen: „Der Charakter des Krieges verändert sich.“

„Wo braucht man gezogene Artillerie, wo braucht man vielleicht Ketten- oder Radfahrzeuge? Was kann man mit Munition tun, um Reichweite zu erzielen, anstatt neue Kanonen zu bauen?“

„Aus diesem Grund müssen die zukünftigen Artilleriesysteme dazu befähigt werden, die Verweildauer in der Feuerstellung, also die Dauer zwischen dem ersten Schuss und dem Verlassen der Feuerstellung, weiter zu verkürzen“, ergänzt Jack Watling vom Thinktank Royal United Services Institute (RUSI). Seiner Expertise nach hätten die Russen inzwischen die Fähigkeit entwickelt, ukrainische Artilleriestellungen innerhalb von nur zwei Minuten nach deren erstem Schuss mit Gegenfeuer zu belegen. Vorher hatten die russischen Soldaten fünf bis 20 Minuten zum Gegenschlag benötigt. Offenbar ist dies nicht durch Einführung neuer Systeme geschehen, sondern alleine deswegen gelungen, weil die Russen den Prozessablauf verschlankt hätten, indem den schießenden Artilleriekräften direkter Zugriff auf die dafür notwendigen Zielortungsfähigkeiten ermöglicht wurde.

Unter Feuer: Die radgestützte Artillerie ist schnell am Schuss und schnell wieder weg

Die deutsche Panzerhaubitze 2000 rollt auf Ketten und soll innerhalb von zwei Minuten zwischen An- und Abmarsch in einer Feuerstellung den Feuerkampf geführt haben – entweder mit drei Schuss innerhalb von zehn Sekunden oder mit zehn Schuss innerhalb einer Minute. Vor allem aufgrund von verstärkter Aufklärung durch Drohnen ist das Gefechtsfeld gläsern geworden und zwingt zu mehr Tempo. Laut dem Magazin Defense One sagte General Rainey, dass Artilleriesysteme auf dem zukünftigen Schlachtfeld ständig in Bewegung sein müssen, um nicht entdeckt, identifiziert und zerstört zu werden. Radgestützte Artillerie ist schneller als die kettenbetriebene oder vor allem die gezogene Artillerie.

Die schnellste Haubitze der Welt könnte aus Schweden kommen, wie einige Beobachter behaupten: die FH-77BW L52 Archer (Bogenschütze) – eine Selbstfahr-Lafette mit einem Kaliber-155-mm-Artilleriegeschütz auf Rädern. Aus voller Fahrt heraus braucht sie 20 Sekunden, um den Feuerkampf gegen Wladimir Putins Armee aufzunehmen. Ebenso schnell ist das neue Artilleriesystem der Ukraine abmarschbereit zum Stellungswechsel. Der autonome Einsatz gegen den Aggressor aus Russland ist dabei ebenso möglich, wie der Einsatz zusammen mit anderen Geschützen im Batterie-Verbund. Auch Frankreich brilliert in der Ukraine mit ihrer radgestützten Artillerie: dem Caesar – der wird auf der weltweiten Rüstungsmesse Eurosatory 2024 vom 17. bis 21. Juni in Paris als Zukunftsmodell gepriesen.

Unter Druck: Frankreich will mehr Caesar als bisher liefern

Charles Beaudouin erwartet, „dass die auf Lastwagen montierte Caesar-Haubitze von KNDS France einer der Stars der Show sein wird“, wie das Magazin Defense News schreibt. „Die Kühnheit der Radkanone liegt in ihrer maximalen Effizienz“, sagte der pensionierte General und Messe-Veranstalter gegenüber Defense News. „Sie müssen in puncto Feuerkraft, Feuerrate, Präzision und Reichweite keine Abstriche machen und haben einen Lastwagen, der zwar gepanzert ist, aber dennoch wendig und sehr verborgen sein kann.“

Auch der Stern hatte bereits zu Beginn des Krieges den Caesar über alle Maßen gelobt: „Zur Besatzung gehören drei bis sechs Soldaten. In 60 Sekunden ist die Kanone einsatzbereit. Dann kann sie sechs Granaten im Kaliber 155 mm/52 so abfeuern, dass sie gleichzeitig im Ziel einschlagen. 40 Sekunden nach dem letzten Schuss kann der Lkw bereits wieder in Bewegung sein. Diese Geschwindigkeit und die Reichweite von 40 bis 50 Kilometern führt zu einer großen Wirkung auf dem Schlachtfeld“, schrieb Stern-Autor Gernot Kramper.

Aufgrund seiner vermeintlichen Effizienz will auch Luxemburg jetzt Caesar für die Ukraine finanzieren, wie die Zeitung Luxemburger Wort schreibt. Frankreich hatte bis Ende dieses Jahres 78 Einheiten zugesagt und bisher 36 geliefert, aus Dänemark werden 19 Einheiten anrücken. Insgesamt sollen in der Ukraine 147 Caesar gegen Russlands Invasionsarmee antreten. Nach Berichten des Militärblogs hartpunkt will Frankreich die Systeme allerdings aus anderen Ländern gegenfinanziert haben. Auch in Finnland wird auf Basis des Patria-Radfahrzeuges eine radgestützte Haubitze entwickelt, Deutschland erhält von KNDS die Radhaubitze RCH 155 auf Boxer-Fahrgestell, und die Ukraine will die Produktion ihrer 155 Millimeter-Haubitze 2S22 Bohdana ausbauen. Auch Russland setzt auf das Rad.

Unter realen Bedingungen: Der neue Caesar setzt Schwerpunkte in der Mobilität

Das neue Modell des Caesar soll in allen seinen Stärken weiter verbessert worden sein, wobei das Geschütz mit seinem 155 Millimeter Kaliber das alte geblieben ist; die Innovationen beziehen sich eher auf den passiven Schutz sowie seine Mobilität, wie beispielsweise das Magazin Armyrecognition berichtet. Schnelligkeit werde zum entscheidenden Faktor, verdeutlicht auch das Magazin Defense News durch die Aussage von Pierre-André Moreau gegenüber dem YouTube-Kanal VA Plus, „dass Panzerartillerie aufgrund der allgegenwärtigen Panzerabwehrmunition und Drohnen auf dem Schlachtfeld, kurz davor steht, völlig obsolet zu werden‘.“

Das Magazin War on the Rocks zitierte bereits im September vergangenen Jahres Doug Bush dahingehend, „dass die Feuerstrategie wichtige Entscheidungen in seinem Ressort beeinflussen werde, darunter auch die Frage, wie der Bedarf an Kanonenartillerie mit erweiterter Reichweite gedeckt werden solle“, wie der für die Beschaffung der US-Armee Verantwortliche erläutert – er verweist auf die Komplexität dieser Themen: „Wo braucht man gezogene Artillerie, wo braucht man vielleicht Ketten- oder Radfahrzeuge? Was kann man mit Munition tun, um Reichweite zu erzielen, anstatt neue Kanonen zu bauen?“

Die Munition sei neben der Mobilität tatsächlich der entscheidende Faktor, sagt auch Dietmar Felber. Das Nato-Standard-Kaliber sei zwar 155-Millimeter, aber das sei eben nur der kleinste gemeinsame Nenner der verschiedenen Munitionsarten, wie der Bundeswehr-Oberst erläutert. Den Schuss an sich berechnen die Geschütze selbst. Und die Feuerleitung übernehmen digitale Produkte aus dem Computer-Einzelhandel. Die Ukraine hat bereits nach der Annexion der Krim eine App dazu entwickelt – Gis Arta heißt das System, wie der Spiegel berichtet hat – ihm zufolge eine clevere Software, die Feuerbefehle im Nu weiterleiten könne. „Dafür benötigen ukrainische Kommandeure lediglich ein Smartphone.“

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