Rekord-Gefangenentausch im Ukraine-Krieg ruft Putins Trolle auf den Plan – Warum er so wichtig war
Noch nie sind im Ukraine-Krieg so viele Gefangene ausgetauscht worden – und so viele Zivilisten. Doch Russland attackiert mit Drohnen und Fake News.
Große Ergebnisse haben die von US-Präsidenten Donald Trump geforderten direkten Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine vor anderthalb Wochen nicht erbracht – eher sieht es danach aus, als wolle Russland Zeit gewinnen. Einem Ende scheint der Ukraine-Krieg jedenfalls kaum näher gekommen zu sein.
Immerhin ein Resultat gab es aber: Am Wochenende ging der bislang größte Gefangenentausch zwischen Russland und Ukraine über die Bühne. Auch inhaltlich war der Tausch ungewöhnlich. Für die ukrainische Zivilgesellschaft dürfte er immerhin einen kleinen Schritt in die richtige Richtung bedeuten, wie Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk im Gespräch mit dem Münchner Merkur klargemacht hatte. Aber prorussische Trolle nutzen in Deutschland auch diese Gelegenheit für Störfeuer im Sinne Putins.
Trump preist Ukraine-Russland-Gefangenentausch: Nicht der erste, aber der größte
Trump hatte das Ereignis vorzeitig verkündet. Am Freitagmittag postete er: „Ein großer Gefangenentausch zwischen Russland und Ukraine ist gerade vollzogen worden”. „Das könnte zu etwas Großem führen???”, fügte er hinzu. Noch immer ist unklar, ob die USA unter Trump in einem Friedensprozess involviert bleiben. Und wie ernst sie propagandistische Behauptungen aus Russland nehmen.

Zum Zeitpunkt von Trumps Posting war die erste von drei Tausch-Etappen noch nicht komplett. Und nach nahendem Durchbruch wirkt die Gesamtlage nicht: Quasi zeitgleich mit den Transfers der Gefangenen überzog Aggressor Russland die Ukraine mit einer enorm heftigen Welle an Drohnenangriffen.
Auch einzigartig war der am Sonntag beendete Austausch von jeweils 1000 Gefangenen nicht. Mehr als 60 Austausche seit Beginn des Überfalls Russlands auf die gesamte Ukraine zählt etwa Kyiv Independent. Sie umfassten laut diesen Daten jeweils zwischen einer und 277 Personen, durchschnittlich waren es 80. Mengenmäßig stellen die beidseits 1000 Freigelassenen also einen Rekord dar. Und ungewöhnlicherweise waren diesmal auch jeweils 120 Zivilisten unter den freigelassenen Gefangenen. Bis Dezember waren insgesamt nach Angaben aus Kiew überhaupt erst knapp 170 ukrainische zivile Gefangene freigekommen.
Zivilisten im Ukraine-Krieg ausgetauscht: Wen hat die Ukraine an Russland freigegeben?
Aus Sicht Matwijtschuks, Chefin der NGO Center for Civil Liberties, ist aber gerade diese Dimension besonders wichtig. Zusammen mit russischen Aktivisten fordert sie die Freilassung aller zivilen und Kriegsgefangenen. „Ich habe mit Hunderten Menschen gesprochen, die russische Gefangenschaft überlebt haben, Männer und Frauen, Zivilisten und Soldaten und Soldatinnen. Sie haben mir schockierende Geschichten erzählt“, berichtete sie unserer Redaktion am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar. Folter und sexueller Missbrauch seinen an der Tagesordnung. Es sei klar, dass viele Gefangene diese Umstände nicht bis zu einem Ende des Ukraine-Kriegs überleben könnten.
In sozialen Netzwerken wie Elon Musks X überschlugen sich allerdings auch Vorwürfe an die Adresse der Ukraine. Bei den von der Ukraine an Russland übergebenen Zivilisten handle es sich um verschleppte Bewohner aus der von der Ukraine zwischenzeitlich teilweise besetzten russischen Oblast Kursk, heißt es etwa. Tatsächlich zeigt ein auch von der Nachrichtenagentur Reuters verbreitetes Video zwei ältere Personen bei Ankunft in der Oblast Kursk. Nähere Umstände lassen sich aus den Bildern aber nicht ableiten.
Auch die Identitäten der ehemaligen Gefangenen lassen sich nicht im Einzelnen überprüfen. In jedem Fall stellt die Ukraine die Lage weitreichend anders dar: Bei 70 der 120 Transferierten handle es sich um Personen, die der Zusammenarbeit mit Russland, Staatsverrat und Terrorismus für schuldig befunden wurden – und sich als „russische Staatsbürger identifizierten“, hieß es von offiziellen Stellen.
Russland und Ukraine tauschen Gefangene: Putins Behörden setzen auch Zivilisten fest
Laut russischen Oppositionsmedien wie Meduza und iStories befindet sich beispielsweise ein Vertrauter des Putin-nahen und ukrainischen Ex-Oligarchen Viktor Medwedtschuk unter den an Russland Übergebenen – sowie mehrere Menschen, die in sozialen Netzwerken die russische Invasion begrüßten. In der Ukraine ist das eine Straftat.
Einer weiteren von prorussischen Kommentatoren auf X in Umlauf gebrachten Behauptung lässt widersprechen: Sie lautet, Russland halte keine ukrainischen Zivilisten gefangen; Kiew habe zivile gegen militärische Gefangene getauscht. Das behauptet nicht einmal der Kreml.
Russland selbst hat im Frühjahr die Leiche der ukrainischen Journalistin Viktoria Roschtschyna zurückgegeben – allerdings mit fehlenden Organen, laut Matwijtschuk wohl, um Folter zu vertuschen. Roschtschyna war 2023 nahe des Atomkraftwerks Saporischschja von Russland festgenommen worden. Auch ein internationales Journalistenteam unter Beteiligung des Guardian hat den Fall belegt. Das CCL dokumentiert seit langem willkürliche Festnahmen, Folter oder Fälle von Verschwindenlassen in den russisch besetzten Gebieten. Allein 4000 Hilfsanfragen seien an die Organisation gerichtet worden, berichtete die Agentur AP. Auch auf der russisch besetzten Krim setzt Russland immer wieder unter anderem Angehörige der krimtatarischen Bevölkerungsgruppe fest.
Im Ukraine-Krieg: Wieviele Ukrainer sitzen in russischer Gefangenschaft?
Russische Daten zur Zahl ukrainischer Gefangener gibt es aus naheliegenden Gründen nicht. Nach Angaben des Menschenrechtsbeauftragten des ukrainischen Parlaments, Dmytro Lubinets, befanden sich aber im Dezember 16.000 ukrainische Zivilisten in rund 180 russischen Haftanstalten. Das Präsidentenbüro meldete Anfang Mai zugleich 8000 Soldatinnen und Soldaten in russischer Kriegsgefangenschaft. Hinzu kommen nach Angaben aus Kiew 19.500 aus ihrer Heimat nach Russland deportierte ukrainische Kinder. Unabhängig verifizieren lassen sich diese Zahlen nicht.
Auch eine weitere Wladimir Putin willkommene Propaganda-These scheint falsch zu sein. So heißt es auf X, die Ukraine versuche gezielt, Mitglieder des einstmals tatsächlich mit klaren Bezügen in die Neonazi-Szene gegründeten Asow-Regiments freizubekommen.
Dessen späterer Chef Denys Prokopenko beklagte sich am Wochenende bitterlich: Kein einziges Mitglied des Regiments sei beim bislang größten Gefangenentausch freigekommen. Das Asow-Regiment ist mittlerweile Teil der ukrainischen Nationalgarde und hat seinen Charakter verändert. Involviert war es im Ukraine-Krieg vor allem bei der Verteidigung Mariupols. Russland versucht seinen Überfall von Beginn an mit der Behauptung zu rechtfertigen, es wolle die Ukraine „entnazifieren“. (fn)