„Gerade mit Deutschen war es schwierig“: Ex-Außenministerin fordert großen Schritt im Ukraine-Krieg
Mit einem „Siegesplan“ für die Ukraine könne der Krieg 2025 enden, meint die lettische Ex-Ministerin Sandra Kalniete. Sie beklagt Versäumnisse in der Russland-Politik.
Das Baltikum warnt schon lange vor Wladimir Putins Aggression – und sieht sich von Russland besonders bedroht. Sandra Kalniete, frühere Top-Diplomatin und von 2002 bis 2004 auch Außenministerin Lettlands, fordert im Interview mit IPPEN.MEDIA nun einen klaren Plan im Ukraine-Krieg. Die Konservative gehört schon lange zu den mahnenden Stimmen in der EU, mittlerweile als Außenpolitikerin im Europaparlament. Sie bedauert den späten Kurswechsel Deutschlands und der anderen Partner. Und sie sieht weitere Gefahren aus Russland für die EU-Staaten.
Frau Kalniete, Sie sind eine erfahrene Politikerin. Haben Sie schon in Ihrer Amtszeit als Außenministerin die späteren Probleme mit Putins Russland erahnt?
Natürlich. Ich war eine der Stimmen, die schon in den ersten Jahren von Putins Amtszeit sehr skeptisch war. Ich erinnere mich an einen ersten Konflikt: Russland weigerte sich, das Zollabkommen mit der EU anzuerkennen – es wollte Einzelabkommen mit allen neuen Mitgliedsstaaten aushandeln. In der Runde der EU-Minister wollte das niemand glauben. Es handle sich um einen unterschriebenen Vertrag, hieß es. Ich habe meinen nordischen Kollegen gesagt: Für Russland ist das nur Papier, sie werden handeln, wie sie es für ihre Interessen für sinnvoll erachten. Aber natürlich stand auch schon damals das Schicksal der Ukraine auf dem Spiel.
Putins Außenpolitik in Osteuropa: „Politiker können geschmiert werden, nicht aber eine ganze Nation“
Inwiefern?
Schon viel zu lange hat Russland die Länder der „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“, die sich Richtung Europa wandten, auf der Agenda. Natürlich hat Moskau sein Bestes getan, die Ukraine zu gewinnen – aber glücklicherweise gilt: Politiker können geschmiert werden, nicht aber eine ganze Nation. Deshalb gab es die Orangene Revolution. Nach der Annexion der Krim ist die Wahl der Ukraine ohnehin klar. Ich sehe für Russland keine Möglichkeit, das umzukehren – besonders jetzt, nach der wahren Aggression. Europa hat nach 2014 aber so getan, als hätte es all das vergessen.

Schon zum Start des neuen EU-Parlaments stand eine Ukraine-Resolution auf der Tagesordnung. Was kann die EU jetzt tun?
Es ist wichtig, dass Kommission, Rat und Parlament einen echten systematischen Plan für den Sieg der Ukraine erarbeiten. Den gibt es bis jetzt nicht. Jegliche Hilfe, ob militärisch oder humanitär, hängt vom politischen Willen der einzelnen Mitgliedsstaaten ab. Da gibt es aber natürlich Wandel und Nuancierungen, abhängig von der politischen Führung. Der Schritt ist besonders wichtig, weil wir auf einen politischen Meilenstein zusteuern: die US-Wahl. Ich glaube, das Bewusstsein der EU wächst, dass wir uns für einen isolationistischen Kurs der USA wappnen müssen.
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Wie würde dieses Wappnen konkret aussehen?
Das ist eine enorme Aufgabe – für die wir noch nicht bereit sind, nicht im Geringsten. Natürlich gibt es ein gewisses Wachstum der Rüstungsindustrie. Aber das ist nichts, was sich in ein oder zwei Jahren bewältigen lässt. Das braucht ungefähr fünf Jahre. Dann geht es natürlich auch um das Budget. Da gibt es zwei Szenarien. Entweder wir erhöhen die eigenen Mittel der EU – zum Beispiel wie mit den Corona-Bonds – oder wir nutzen eingefrorenes Vermögen Russlands. Und dann müssen wir klar vereinbaren, welches Land was tut. Im Zweiten Weltkrieg haben die USA einen „Victory Plan“ gefasst, ausgearbeitet bis in die kleinsten Details: Was ist nötig an Militärgerät und Personal, um Nazi-Deutschland zu schlagen. Genau so sollten wir auch vorgehen.
Im Winter 2023/24 hakte es massiv bei den militärischen Lieferungen. Gerade, weil die USA ausfielen.
Und die Ukraine steht unter enormem Druck Russlands, gerade seit Moskau auf Kriegswirtschaft umgestellt hat. Wenn andere, größere Länder wie Deutschland oder Frankreich so wie die baltischen Staaten einen festen Anteil ihres Bruttoinlandsprodukts zur Verfügung stellen, könnten wir 2025 den Krieg beenden. Dafür braucht es aber politischen Willen und sehr präzisen, effizienten Einsatz der Mittel. Ich spreche aber über ein Idealszenario. Als erfahrene Politikerin glaube ich nicht, dass wir das schaffen. Denn schauen Sie nach Frankreich: Der Krieg hat auch Auswirkungen auf die Politik in unseren Staaten. Mich besorgt, dass in vielen Ländern sehr ähnliche Parteien mit, sagen wir, ‚nationalem Profi‘ wachsende Unterstützung erhalten. Das zeigt, dass rechte Phrasen die Wähler erreichen – selbst, wenn sie hohl sind.
Radikale Linke und Rechte „nützliche Agenten“ für Putin
Auch Putin hat da wohl seinen Anteil. Sie waren Teil des Sonderkomitees zu „ausländischer Einflussnahme auf demokratischen Wahlen“ im EU-Parlament. Nach Ihren Erkenntnissen: Wie geht Russland vor?
Desinformation ist da nur der sichtbare Teil des Eisbergs. Aber bekannt war, dass Russland mindestens 400 Millionen Euro pro Jahr für Medien wie Russia Today oder Sputnik Russia aufwendet. Dieser Betrag ist weiter gewachsen. Am gefährlichsten ist Russlands sehr ausgefeilter Zugriff bei Telegram, bei TikTok. Agenten, die in den baltischen Staaten gefasst wurden, wurden wohl dort rekrutiert, zu sehr geringen Kosten. Sie sollen ein Gefühl der Unsicherheit und Instabilität verbreiten. Das ist das eine. Zum anderen unterscheidet Russland nicht zwischen radikaler Linker und Rechter. Alle, die die demokratische Mitte und die Stabilität verdrängen wollen, sind da nützliche Agenten. Entweder gegen Bezahlung oder einfach mittels für Russland nützlicher Einstellungen.
Was kann man da tun?
Systematisch Öffentlichkeit zu diesen Fällen herstellen. Wir müssen Bewusstsein dafür schaffen, dass es sich um eine permanente Gefahr handelt. In einer Diktatur ist alles sehr einfach: Jemand entscheidet, unterschreibt und es läuft. In einem demokratischen Land brauchen Sie die Öffentlichkeit und öffentliche Unterstützung. Sonst verliert man die nächste Wahl.
Deutschlands Russland-Politik als Problemfall: „Es gibt da eine ganze diplomatische Schule“
Hatte das Baltikum generell von Anfang an einen realitätsnäheren Blick auf Russland als andere EU-Staaten?
Absolut. Ich bedauere das sehr. 2004 wurden die baltischen Staaten EU-Mitglieder. Aber ihre einzigartige Expertise, basierend auf sehr genauer Kenntnis russische Ideologie und Mentalität, wurde komplett ignoriert. Wann auch immer wir eine realistische Haltung einforderten, hieß es: „Das ist euer Groll, ihr wollt doch Rache“ und dergleichen. Dabei ist das völlig unlogisch. Niemand hätte größeres Interesse an einem normalen Russland als wir Nachbarstaaten, denn wir schweben jetzt in permanenter Gefahr. Dennoch habe ich erst nach der Krim-Annexion gehört: „Eure Warnungen waren berechtigt.“ Und kurz darauf ging man wieder zu ‘business as usual’ über. Das Minsk-Abkommen war dabei das Schlimmste, denn Russland hatte keinerlei Absicht, es zu erfüllen. Sie haben nur Zeit gewonnen.
Deutschland hat dabei eine besonders herausgehobene Rolle gespielt – Stichwort Nord Stream 2.
Besonders mit deutschen Politikwissenschaftlern und Kommentatoren war es schwierig. Es gibt eine ganze diplomatische Schule in Deutschland, die der tiefsten Überzeugung ist, dass ein Europa ohne Russland unmöglich ist; dass der Dialog um jeden Preis erhalten werden muss. Und ja, Dialog ist wichtig – aber nicht um jeden Preis. Jetzt sind wir an einem Punkt, an dem der Preis nicht mehr bezahlbar ist. Ich glaube aber, dass in Deutschland das Bewusstsein für die Gefahr wächst – es ist ja der größte Hilfsgeber für die Ukraine hinter den Vereinigten Staaten.
Interview: Florian Naumann