Kursk-Offensive: Ukrainer übernehmen Taktik der Putin-Armee – zu welchem Zweck?

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Kleine Trupps in den Schwachstellen: Die Ukraine kopiert anscheinend die russische Taktik der Stoßtrupps. Bisher wurde allerdings immer berichtet, dafür hätte die Ukraine zu wenige Kräfte. Insofern wird gerätselt, welches militärische Ziel die Ukraine verfolgt (Symbolfoto). © IMAGO / Dmytro Smolienko / Avalon

Ukrainische Infanterie schiebt ihre Verteidigungsstellungen vor und macht Boden gut. Mit welchem Ziel? Der Ukraine fehlen die Soldaten zur Sicherung.

Kursk – „Ich habe in der Taktik-Ausbildung gelernt, Gebiete, die ich gewinne, die muss ich auch halten können“, sagte Janet Watson. Sie ist Hauptmann der Bundeswehr und fragte kürzlich im Podcast Nachgefragt, inwieweit einer der beiden Kontrahenten im Ukraine-Krieg überhaupt in der Lage sei, Territorium nicht nur einzunehmen, sondern vor allem zu sichern. Im Bezirk Kursk geht die Ukraine gegen die Invasionstruppen Wladimir Putins wieder in die Offensive – und versucht sie offenbar mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.

Experten sind über Sinn und Erfolgsaussichten des Einmarsches in Kursk geteilter Meinung – offenbar auch deshalb, weil die Ukraine die Nato-Partnerländer in ihren Planungen weitestgehend außen vor gelassen hat und weiterhin außen vor lässt. „Die Ukrainer haben gerade die Erfahrung gemacht, dass sie durch Überraschung, dass sie durch Bewegung, dass sie durch Geschwindigkeit – dass sie dadurch Erfolge erzielt haben, dass sie dadurch in die Initiative gekommen sind“, sagte Christian Freuding in Nachgefragt. Der Generalmajor vom Sonderstab der Ukraine im Verteidigungsministerium gehe, nach eigenen Worten, „schon davon aus, dass sie in ihrer Operationsplanung weitere Aktionen dieser Art vorbereiten werden“.

Selenskyjs neue Taktik: „Schwachstellen ausloten und dann schnell angreifen“

Womit Freuding ins Schwarze trifft. Wie Forbes berichtet, würde die Ukraine jetzt auf Russlands Territorium auch die Taktik der Russen adaptieren: „Schwachstellen ausloten und dann schnell angreifen“, schreibt Forbes-Autor David Axe. Allerdings äußert das Magazin auch starke Zweifel, inwieweit das gelingen kann. Die Voraussetzungen zwischen den verfeindeten Armeen sind grundverschieden. Nachdem die ukrainischen Kräfte in der Region Kursk Anfang dieses Jahres eine erneute Gegenoffensive begonnen hatten, versuchen sie sich offensichtlich an vorgeschobene Positionen rund um das Dorf Fanasejewka festzukrallen; damit hätten sie ihre neue Verteidigungsstellung um geschätzte fünf Kilometer gen Osten weiter nach Russland hineingetragen.

„Es ist offensichtlich, dass die Beendigung des Krieges mit Russland nur möglich ist, wenn der Aggressor nicht mehr in der Lage oder willens ist, ihn fortzusetzen, und gezwungen ist, seine Truppen aus der Ukraine abzuziehen, ob mit oder ohne Abschluss eines neuen Friedensabkommens.“

Wie David Axe vermutet, war ihnen dabei zupass gekommen, dass sich die Russen an der Kursk-Front und die mit ihnen verbündeten Nordkoreaner neu formieren mussten – schon seit einiger Zeit gelten die Nordkoreaner als von der Front abgezogen. Der Vorstoß der Ukraine über eine Distanz von fünf Kilometer scheint aber vor allem darin begründet, dass deren Truppen die russische Taktik für sich adaptiert hätten.

„Sie suchten die feindlichen Linien nach Schwachstellen ab und setzten dann schnell vorrückende Panzergruppen ein, um Infanterie in neue Positionen jenseits der ursprünglichen Kontaktlinie zu bringen. Ob die Ukrainer ihren Vormarsch festigen können, hängt davon ab, ob schnell genug weitere Infanterie eintrifft, um sich gegen russische Gegenangriffe zu verteidigen“, schreibt David Axe. As „probe-then-assault tactic“, beschreibt Axe das Vorgehen – also erst sondieren und dann angreifen. Dafür benötigen die Kräfte schnelle Fahrzeuge und Infanterie, die in schnellen Trupps vorstößt, anstatt den Feind auf breiter Front anzugreifen und die eigenen Kräfte somit auseinanderzuziehen.

Russland denkt um: „Es scheint, als hätten sie vielleicht zum ersten Mal damit begonnen, Kräfte zu schonen“

Russland hatte das bisher praktiziert, weil im Verlaufe des Krieges erstens die Verteidigungsstellungen auf beiden Seiten massiv ausgebaut und zum Teil um tiefe Minenfelder ergänzt wurden; beziehungsweise weil Drohnen, Präzisionsartillerie und moderne westliche Panzerabwehrraketen massierte mechanisierte zu Himmelfahrtskommandos machten.

Russland rücke in der Ostukraine mittlerweile kleinschrittig vor, wie Markus Reisner im ZDF erklärt hat. „Grundsätzlich ist es so, dass das Militär unterschiedliche Angriffsgeschwindigkeiten kennt. Im Angriff geht man von 1,5 Kilometern pro Stunde aus; wenn der Druck des Gegners nachlässt, kann man erhöhen auf zehn Kilometer pro Stunde. Und eine normale Marschgeschwindigkeit liegt bei etwa 30 Kilometern pro Stunde“, sagt der Oberst des Österreichischen Bundesheeres. Das sei auch das Tempo gewesen, mit der Wladimir Putin diesen Krieg begonnen hatte und vor allem gern beendet hätte.

Die Russen haben offenbar ihre Taktik entlang der gesamten Front geändert. Auch in Pokrowsk beobachtete die Ukraine ein verändertes russisches Vorgehen, wie Viktor Trehubov gegenüber Reuters berichtet hat: Dem ukrainischen Militärsprecher zufolge hätten die Russen aufgegeben, durch verlustreiche Frontalangriffe und Straßenkämpfe Meter zu machen. „Es scheint, als hätten sie vielleicht zum ersten Mal damit begonnen, Kräfte zu schonen“, wie Reuters Trehubov zitiert.

Ukraine-Krieg: Ukraine stemmt sich seit Monaten gegen Welle auf Welle russischer Angriffsbemühungen

Wie der stellvertretende Kommandeur der 59. Angriffsbrigade der Ukraine gegenüber dem britischen Independent erläutert, sei Russland dazu übergegangen, drei- oder vierköpfige Trupps von Infanteristen tief in feindliches Gebiet hineinzuschicken, um mithilfe von Panzerabwehrminen ukrainische Soldaten und Fahrzeuge aus dem Hinterhalt anzugreifen. Im Gegensatz dazu habe die Intensität von Russlands Sperrfeuer nachgelassen, sagt der unter dem Namen „Phönix“ kämpfende Offiziers. Eine Taktik, die an das erinnert, was die US-Amerikaner unter dem Begriff „Search and Destroy“ im Dschungel von Vietnam praktiziert haben: mit kleinen Einheiten in Schwachstellen der gegnerischen Verteidigung hineinsickern und Gebiete von Feindkräften säubern.

Auch David Axe behauptet, in Kursk würden die Russen jetzt verstärkt Spähtrupps an die ukrainischen Linien herausführen, um Schwachstellen zu lokalisieren. „Dabei gehen sie offensichtlich davon aus, dass die meisten Späher getötet werden, hoffen aber offenbar auch, dass ein paar von ihnen Lücken in der ukrainischen Verteidigung entdecken“, schreibt der Forbes-Autor. Was sich die russische Führung leisten kann angesichts ihrer drei bis- bis vierfachen Feuerüberlegenheit. Die Ukraine stemmt sich seit Monaten gegen Welle auf Welle russischer Angriffsbemühungen.

Wohlüberlegte Offensiven: Ukrainer müssen einen eigenen Ansatz verfolgen um zu sondieren

Was Russland bisher versucht hat, die Verteidigungskräfte der Ukraine überdehnen, war offenbar gescheitert; inwieweit die neue Taktik verfängt, bleibt abzuwarten. Jedenfalls scheint diese Taktik ungeeignet, von der Ukraine kopiert zu werden; langfristig. „Der Hauptunterschied zwischen der russischen und der ukrainischen Version dieser Angriffstaktik besteht darin, dass die Russen über eine große Truppenstärke verfügen, die Ukrainer jedoch nicht. Die Ukrainer müssen also einen eigenen Ansatz verfolgen, um die russischen Linien vor dem Hauptangriff zu sondieren, schreibt Axe.

Wie die Ukraine auf X (vormals Twitter) informiert, hätte das 73. Spezialeinsatzzentrum der ukrainischen Marine Kursk von den nordkoreanischen Kräften befreit und notwendige Informationen für den Vorstoß auf Fanasejewka beschafft; allerdings streift Axe auch die Fragen, inwieweit das Dorf gehalten werden könne; oder ob die Gegenoffensive weiter fortzuführen wäre; und wenn ja, mit welchen Kräften. In der Ukraine schleift sich der Heldenmut der einzelnen Soldaten weiter ab.

Gewinne bei Kursk: Möglicherweise hat Fanasejewka einen hohen moralischen Wert

Möglicherweise hat Fanasejewka einen hohen moralischen Wert; möglicherweise einen höheren als den taktischen. Nur solange die Ukraine ihren eigenen Weg fortsetzt, hat sie demnach eine Chance auf einen einigermaßen akzeptablen Ausgang des Krieges. Insofern ist sie zur Offensive verdammt, anstatt sich weiter ins eigene Land hineindrängen zu lassen. Noch hat Russland neben Nordkorea die Zeit als seinen stärksten Verbündeten.

Die Ukraine kann also tatsächlich kaum etwas Klügeres unternehmen, als weiter zu versuchen, Russland größtmöglichen Schaden zuzufügen. Vom einzelnen Trupp, der in die ukrainischen Gewehre läuft, bis zum Depot, das unter einem Drohnen-Angriff in Rauch aufgeht – was auch für den britischen Thinktank Royal United Services Institute (RUSI) feststeht, wie dessen Analyst Oleksandr V. Danylyuk bereits Mitte vergangenen Jahres ausgedrückt hat:

„Es ist offensichtlich, dass die Beendigung des Krieges mit Russland nur möglich ist, wenn der Aggressor nicht mehr in der Lage oder willens ist, ihn fortzusetzen, und gezwungen ist, seine Truppen aus der Ukraine abzuziehen, ob mit oder ohne Abschluss eines neuen Friedensabkommens.“

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