„Historischer Fehler“: Grüne uneins bei EU-Asylrecht – Partei widerspricht Baerbock
Annalena Baerbock begrüßt das neue Asylpaket der EU. Viele Grüne lehnen die strengeren Gesetze ab – und stimmten im EU-Parlament dagegen. Droht der Partei der nächste Streit?
Brüssel – Es ist nur ein kurzer Post von Annalena Baerbock, aber er könnte bei den Grünen für Aufregung sorgen. Mit dem Ja zur europäischen Asylreform GEAS im Europaparlament beweise die EU „in schwierigen Zeiten Handlungsfähigkeit“, kommentiert die deutsche Außenministerin auf X. „Europa bekommt verbindliche Regeln mit Humanität & Ordnung.“ Die verpflichtende Solidarität sei ein Meilenstein und auch „eine gute Nachricht für Kommunen in Deutschland“, meint Baerbock.
Das klingt harmlos, dürfte vielen ihrer Parteikollegen aber übel aufgestoßen haben. Innerhalb der Partei ist die Asylreform nämlich äußerst umstritten, bei der entscheidenden Abstimmung am Mittwoch (10. April) stimmten große Teile der deutschen Grünen-Fraktion im Europaparlament gegen einzelne Punkte des Gesetzespakets. Steht die Partei vor der Zerreißprobe?

Viele Grüne lehnen europäischen Asylkompromiss ab
Tatsächlich sorgt die Neuausrichtung der europäischen Asyl- und Migrationspolitik in der Partei seit längerem für Ärger. Mit der Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems (GEAS) will die EU den Zuzug von Geflüchteten nach Europa besser steuern, aber vor allem auch stärker begrenzen – der linke Flügel der Partei lehnt das naturgemäß strikt ab.
Nachdem die Bundesregierung im Juni 2023 auf einem Asylgipfel der EU-Innenminister einem Kompromiss zugestimmt hatte, der deutlich restriktivere Bestimmungen enthielt als von deutscher Seite gewünscht, kochten die Emotionen schon einmal hoch. Viele Parteimitglieder waren damals entsetzt, selbst führende Grüne äußerten Kritik. In einem Brief bat Baerbock um Verständnis. Der Asylkompromiss sei ihr persönlich „schwergefallen“ und „absolut kein einfacher. Zur Ehrlichkeit gehört: Wenn wir die Reform als Bundesregierung alleine hätten beschließen können, dann sähe sie anders aus“, schrieb Baerbock damals.
Regierungsverantwortung und traditionelle Grünenpolitik: Baerbock und Habeck bei Asylfrage vor Dilemma
Die Ministerin und ihren Parteikollegen, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, stellt die Asylfrage vor ein Dilemma. Einerseits gehören sie einer Partei an, die traditionell eine offene Einwanderungspolitik vertritt. Schnelle Abschiebungen und Asylzentren an den EU-Außengrenzen, wie in der Reform vorgesehen, sind für weite Teile der Basis und für die Grüne Jugend ein Tabubruch. Andererseits steht das Grünen-Duo in der Regierungsverantwortung. Deutschland muss mit den europäischen Partnern zusammenarbeiten – dafür braucht es die Grünen, wenn sie in der Regierung bleiben wollen. „Das ist mein Job, mir und uns das zuzumuten“, begründete Baerbock auf dem Länderrat der Grünen im Juni 2023 ihre Zustimmung zum EU-Kompromiss.
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Zur Revolte kam es bei dem Treffen im hessischen Bad Vilbel nicht, und auch auf dem großen Parteitag im November 2023 in Karlsruhe konnten sich Baerbock und Habeck durchsetzen. Eine Mehrheit der Delegierten lehnte Anträge der Grünen Jugend ab, den Ministern sowie Fraktionen die Zustimmung zu „weiteren Asylrechtsverschärfungen“ zu verbieten. Die Vorschläge seien „ein Misstrauensvotum in Verkleidung“ und eine indirekte Aufforderung, die Ampel-Regierung aus SPD, Grünen und FDP zu verlassen, hatte Habeck zuvor erklärt. Mit Änderungen am Beschlusstext vermied die Parteispitze einen Eklat. Das Abstimmungsergebnis konnte über die tiefe Spaltung der Partei aber nicht hinwegdeuten. „Kein Mensch ist illegal“, schalte es in Karlsruhe durch den Saal, Parteimitglieder liefen mit anklagenden Plakaten durch die Reihen.
EU-Parlament einigt sich auf Asylzentren an Grenze und schnellere Abschiebungen
Auch vor der Abstimmung im EU-Parlament am Mittwoch (10. April) zeigten sich die Differenzen. Während Baerbock bei X für die GEAS-Reform warb („Mit der #GEAS Reform liegt ein hart verhandelter Kompromiss auf dem Tisch. Es ist an Europa, jetzt Handlungsfähigkeit zu beweisen“), kritisierte der grüne Europaabgeordnete Erik Marquardt die Pläne. Es seien größtenteils einfache Lösungen auf dem Papier, die die Migration nach Europa nicht begrenzen würden, sagte der Migrationsexperte im Deutschlandfunk. Die europäischen Grünen wollten daher nicht allen Verordnungen zustimmen.
Damit waren sie nun in der Minderheit. Im Europaparlament machten die Abgeordneten den Weg frei für eine deutliche Verschärfung der Asyl- und Migrationspolitik. Bei der GEAS-Reform handelt es sich um mehrere Gesetzestexte, über die einzeln abgestimmt wurde. Die neuen Bestimmungen sollen Abschiebungen bereits an der Grenze ermöglichen und Hauptankunftsländer wie Italien oder Griechenland entlasten. Ein Kernaspekt ist die Errichtung von Asylzentren nahe der EU-Außengrenzen für Geflüchtete mit geringeren Aufnahmechancen (höchstens 20 Prozent Anerkennungsquote in der EU). Sie durchlaufen hier ein Grenzverfahren, das auch für Migranten gilt, die als Sicherheitsgefahr eingeschätzt werden oder die Behörden getäuscht haben.
Juristisch sind die Geflüchteten damit nicht in die EU eingereist – und können nach dem Verfahren, das maximal 12 Wochen dauern soll, aus den Asylzentren direkt abgeschoben werden. Das ist künftig auch in „sichere Drittstaaten“ möglich, wenn die Migranten dort eine Verbindung haben, etwa durch Angehörige. Hinzu kommt ein Solidaritätsmechanismus. Geflüchtete sollen von den Erstaufnahmeländern aus in Europa verteilt werden. Umstritten ist das Gesetzespaket vor allem, weil auch Familien mit Kindern und unbegleitete Minderjährige festgehalten werden sollen. Das wollte die Bundesregierung eigentlich verhindern, konnte sich aber nicht durchsetzen.
Grüne stimmten im Europaparlament mehrheitlich gegen Verschärfung der EU-Asylpolitik
Getragen wurde das Gesetz im Parlament von Konservativen, Liberalen und Sozialdemokraten. Abgeordnete aus dem linken Lager sprachen hingegen von einem „Pakt mit dem Teufel“ und einer „Schande“. Und auch Europas Rechte waren nicht zufrieden. Abgeordnete der AfD oder der italienischen Regierungspartei Fratelli d‘Italia sahen eine Migranten-„Schwemme“ auf Europa zukommen. Das rechte Lager empfindet die Reform als wirkungslos. Dementsprechend knapp wurde es bei den besonders strittigen Reformteilen.
Neben den Parteien vom rechten oder linken Rand stimmten die Grünen fast geschlossen gegen die Reformtexte. Der Pakt werde „die unerträgliche Situation an den EU-Außengrenzen nicht lösen und kaum dazu beitragen, Migration besser zu steuern, stattdessen aber mehr Bürokratie schaffen“, sagte die Ko-Vorsitzende der Grünen im Europaparlament, Terry Reintke. „Wir können keinem Pakt zustimmen, der die Inhaftierung von Schutz suchenden Familien und Kindern an den EU-Außengrenzen zulässt und die Rechte Geflüchteter schwächt.“ Auch Marquardt sagte: „Kinder und Familien in Lager zu sperren, das ist doch keine Lösung.“

Differenzen bei Grünen über Asylpolitik in Europa
Auf Anfrage von IPPEN.MEDIA räumte er „Unterschiede zur Haltung von Annalena Baerbock und Winfried Kretschmann“ beim Asyl-Paket der EU offen ein. Er selbst habe gegen die Reform votiert. Eine Position innerhalb der Partei laute, dass man Handlungsfähigkeit bewiesen habe. Das sei prinzipiell „ja auch sinnvoll“. Kurz vor der Europawahl sollte ein Kompromiss präsentiert werden. Im Mittelpunkt stünden aber keine Symbole, „am Ende muss sich auch etwas verbessern“, so Marquardt. Auch dürfe es „jetzt nicht um Parteitaktik gehen, sondern wie man das Asylsystem besser organisiert und nicht aus dem Blick verliert, dass es um Menschen geht.“
Deutliche Kritik übte der Sprecher der deutschen Grünen im Europaparlament, Rasmus Andresen, auf X: „Dieses Asylpaket ist eine massive Menschenrechtseinschränkung und wird nicht dazu in der Lage sein, das Asylsystem besser zu ordnen. Die Europäische Union täuscht Lösungen vor, die in Wahrheit keine sind.“
Grüne Bundestagsabgeordnete sieht „Entmenschlichung von Asylsuchenden“
Wie die Bundestagsabgeordnete Jamila Schäfer im Gespräch mit t-online sagte, sei die Reform „eine vertane Chance“. Statt „endlich schnellere Verfahren und Integration und eine faire Verteilung anzugehen, werden schutzsuchende Menschen, auch Kinder, eingesperrt und durchlaufen deutlich bürokratischere und längere Asylverfahren. Damit drohen sich die Probleme des europäischen Asylsystems sogar noch zu verschärfen“, zitiert das Portal die Politikerin. Mit weniger Asylbewerbern rechnet sie laut dem Bericht nicht und kritisiert, dass die Debatte „immer weniger mit Evidenz und wissenschaftlichen Fakten zu tun hat und immer mehr mit Entmenschlichung von Asylsuchenden“.
Zustimmung gibt es laut t-online vom Grünen-Bundestagsabgeordneten Julian Pahlke. „Die zentralen Herausforderungen“ blieben ungelöst. Es würden nicht weniger Menschen nach Europa kommen, „nur weil man sie noch schlechter in der EU behandelt“, wird Pahlke im Bericht zitiert. Er kritisiert tiefe Eingriffe in das Grundrecht auf Asyl durch die Reform. „Dieses Recht auszuhöhlen“, sei ein „historischer Fehler“, sagte Pahlke. „Das Sterben im Mittelmeer wird durch diese Reform weitergehen.“
Realos bei Grünen angeblich verärgert über Abstimmungsverhalten der Parteikollegen im Parlament
Bei den „Realos“ in der Partei, also den Vertretern des konservativeren Flügels, sorgte das Abstimmungsverhalten der Parteikollegen im Parlament laut einem Bericht des Tagesspiegels für Verärgerung, auch wenn offenbar keiner aus dem Führungszirkel direkt auf den „erneuten Widerstand gegen den Regierungskurs“ eingegangen ist. Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann habe das Ergebnis im Parlament aber demonstrativ gelobt. „Der EU-Asylkompromiss ist ein überfälliger Schritt hin zu mehr Ordnung, Steuerung und Begrenzung in der Migrationspolitik“, zitiert die Zeitung den Politiker. Es habe sich gezeigt, „dass Europa durch Kompromissfindung in der Lage ist, in zentralen Fragen gemeinsame Antworten zu finden“.
Ähnlich hatte sich Agrarminister Cem Özdemir vor der Abstimmung geäußert: „Eine wirkungsvolle Steuerung und Regulierung von Migration braucht eine gemeinsame europäische Antwort“, postete er auf X. „Denn Humanität und Akzeptanz für das Recht auf Asyl kann es nur in der Ordnung geben. Darum ist die Zustimmung des EU-Parlaments zum EU-Migrationspaket so wichtig und richtig.“
Enden dürfte die Diskussion übers Asylrecht bei den Grünen mit der Parlamentsentscheidung nicht. Zwar gilt es als Formsache, dass die EU-Länder den Asylpakt billigen und wahrscheinlich am 29. April im Ministerrat absegnen, aber laut Marquardt warte noch viel Arbeit auf die EU. GEAS beinhalte keine einfache Lösung, sondern „1000 Seiten komplizierte Regeln“. Allein die Krisenverordnung sei „eine einzige Ansammlung von Ausnahmeregelungen für Mitgliedstaaten.“ Die Folge werde sehr viel zusätzliche Bürokratie sein – und wohl auch ein „großer Flickenteppich“. Für die Umsetzung haben die EU-Länder nun zwei Jahre Zeit, in diesem Sommer greifen die neuen Bestimmungen noch nicht. (flon/afp/kna)