Rente, Bürgergeld, Wirtschaftskrise: „Es fehlt an Mut für echte soziale Gerechtigkeit“
Nach 100 Tagen im Amt fordert das Wirtschaftsinstitut mehr Ambition der Bundesregierung. Der Sozialverband will Kanzler Merz zu einem Sozialgipfel bewegen. Ein Zwischenfazit.
Berlin – Verkorkste Kanzlerwahl, gebrochene Koalitionsversprechen um günstigen Strom, eine offene Feldschlacht um eine Richterinnenwahl und ein Kurswechsel in der deutschen Israel-Politik. In nur 100 Tagen hat die neue Bundesregierung um Kanzler Friedrich Merz schon viele politische Beben produziert. Aber auch viel angestoßen. Mit dem Sondervermögen und der reformierten Schuldenbremse sollen die Wirtschaft angekurbelt werden, Investitionen wieder fließen und der Staatsapparat moderner werden. Wie also die ersten Wochen von CDU, CSU und SPD bewerten?
Hartes Urteil für Merz-Regierung: „Mehr Ambition würde guttun“
„Entscheidend ist weiterhin, was Union und SPD vor Beginn der 100 Tage gelungen ist“, sagt Michael Hüther, Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), gegenüber dem Münchner Merkur von IPPEN.MEDIA. Er verweist auf Schuldenbremse und Sondervermögen, welches Union, SPD und Grüne noch vor dem Regierungsantritt gemeinsam beschlossen haben. „Mit den beiden großen Finanzpaketen haben die Parteien die politische Lähmung bei den Investitionen beendet“, sagt Hüther.

Für eine Bilanz der Umsetzung sei es zwar noch zu früh. „Auffällig ist aber, wie geräuschlos die Partner sich auf einen Haushalt geeinigt haben“, so Hüther. Er kritisiert Schwarz-Rot aber auch. „Mehr Ambition würde der Koalition guttun. Der Investitionsbooster war ein guter Schritt, die nur auf die Industrie begrenzte Absenkung der Stromsteuer hat unnötig Vertrauen beschädigt. Denn über allem schweben die hohen Kosten am Standort Deutschland“, so der IW-Direktor. „Wenn die Parteien die Wirtschaftswende ernst nehmen, brauchen wir niedrigere Unternehmenssteuern und eine echte Reform des Sozialstaats. Die Zeit drängt, die nächsten 100 Tage zählen.“
Altersarmut ist „blinder Fleck der Regierung“
Andere Schwerpunkte in der Bewertung der Regierungsarbeit setzen der Sozialverband Deutschland (SoVD) und dessen Vorstandsvorsitzende Michaela Engelmeier, die Licht und Schatten sieht. „Einige Schritte gehen in die richtige Richtung, aber es fehlt an Mut für echte soziale Gerechtigkeit. Gerade bei Pflege, Gesundheit, Rente und der Armutsbekämpfung braucht Deutschland nachhaltige Reformen für die Zukunft.“
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Engelmeier hält die Altersarmut für einen „blinden Fleck der Regierung“ und fordert besonders für Menschen im Alter bessere finanzielle Unterstützung. Als „Schande“ bezeichnet die Sozialverbandschefin den mangelnden Zugang von Menschen mit Behinderung zum Arbeitsmarkt. „Staat und Politik schauen einfach zu“, so Engelmeiers Urteil.
Liberaler Interessenvertreter warnt vor „wirtschaftlichem NIedergang Deutschlands“
Einen gänzlich anderen Blick auf die entscheidenden Herausforderungen und nötigen Antworten der Bundesregierung darauf hat die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), ein wirtschaftsliberaler Interessensvertreterverband und Tochter des IW. Auch INSM-Chef Thorsten Alsleben wünscht sich mehr Mut von Merz und Co., allerdings nicht beim Sozialen. „Nach einer ersten Anfangseuphorie sind die wenigen positiven Signale der Regierung verpufft und die großen Impulse für eine Wirtschaftswende, insbesondere durch Bürokratieabbau und Steuererleichterungen, bislang weitgehend ausgeblieben“, so Alsleben gegenüber dieser Redaktion.
Der Interessenvertreter zeichnet ein düsteres Zukunftsszenario. „Wenn nicht in den zweiten Hundert Tagen endlich die notwendigen Reformen auf den Weg gebracht und die schädlichen Vorhaben gestoppt oder mindestens abgemildert werden, wird diese Regierung als unerfreuliche Fortsetzung der Ampel in die Geschichte eingehen, die den wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands nicht gestoppt hat.“
Sowohl der SoVD als auch die INSM haben zu einigen Kernpunkten der Regierungspolitik Einschätzungen der bisherigen Arbeit und Forderungen für künftige Regierungspolitik gegeben:
Rente: Soziale Abfederung oder zu großer Kostenpunkt?
Der Sozialverband lobt bei der Rente die jüngst beschlossene Stabilisierung des Rentenniveaus bei 48 Prozent, fordert perspektivisch aber 53 Prozent, „damit niemand nach einem langen Arbeitsleben auf Grundsicherung angewiesen ist“, so Engelmeier. Sie fordert außerdem, Beamte und Selbstständige in die gesetzliche Rente aufzunehmen.
Für die INSM geht die Sicherung des Rentenniveaus in die falsche Richtung: „Das Rentenpaket verschärft die demografische Schieflage und kostet bis 2040 rund 200 Milliarden Euro“, so Alsleben. „Nötig wären nachhaltige Reformen statt Früh-Verrentungsanreizen.“
Bürgergeld laut Sozialverband „Scheindebatte“
In Sachen Bürgergeld, das die Bundesregierung durch die Neue Grundsicherung ersetzen will, kritisiert der Sozialverband, arme Menschen gegeneinander auszuspielen. „Wer jetzt vor explodierenden Sozialausgaben warnt und Bürgergeldempfänger in den Fokus rückt, schürt eine Scheindebatte.“
Der SoVD weist auch auf Wohnen als wichtige soziale Frage hin, begrüßt die Verlängerung der Mietpreisbremse. Auch die „geplante Anhebung der Förderungen des sozialen Wohnungsbaus auf 3,5 Milliarden im Bundeshaushalt 2025 ist ein guter Schritt. Angesichts gestiegener Bau und Finanzierungskosten und einer Verschärfung des Wohnraummangels ist dies jedoch deutlich zu wenig“, sagt Engelmeier.
Sondervermögen und Schuldenbremse: Notwendige Investitionen oder falsche Prioritäten?
Bei der Frage der Finanzierung all der sozialpolitischen Forderungen verweist der SoVD auf ein Einnahmeproblem. „Anstatt die ärmeren Haushalte immer weiter zu belasten, braucht es eine gerechte Beteiligung von Vermögenden an der Bewältigung staatlicher Aufgaben. Denn auch während der Krisen der letzten Jahre wurde der private Reichtum insgesamt größer.“
Aber auch bei von der neuen Bundesregierung beschlossenen Steuerentlastungen sieht der Sozialverband Möglichkeiten, stattdessen Geld in soziale Belange zu investieren. Engelmeier kritisiert die „Absenkung der Körperschaftssteuer ab 2028 und die Begünstigung von bis zu 100.000 Euro teuren Luxus-Dienstwagen“. Bei der im Koalitionsvertrag versprochenen und trotzdem ausgebliebenen Senkung der Stromsteuer für alle spricht die Sozialverbandschefin von einem „fatalen Signal“.
Wäre es nach der INSM gegangen, wäre die Schuldenbremse nicht reformiert worden. „Statt Prioritäten zu setzen, hat die Koalition die Schuldenbremse aufgeweicht – mit 850 Milliarden Euro neuen Schulden bis 2029 und verdoppelter Zinslast“, sagt Alsleben und beklagt: „Steuererleichterungen kommen zu spät oder bleiben aus, während der Mittelstand teils sogar ausgeschlossen wird.“ Auch in Sachen Energieversorgung steht die Initiative für Deregulierung statt für „planwirtschaftliche Lösungen“. Alsleben stellt der Bundesregierung kein gutes Zeugnis aus. „Standortfördernde Reformen, Stromsteuersenkung für alle oder GEG-Streichung bleiben aus, Debatte über spätere Rente verhallt ohne Wirkung.“
Bei Pflege- und Krankenversicherung drohen massive Beitragserhöhungen
Besonders mit Blick auf die Pflege und den großen Arbeitskräftemangel in der Branche verweist Engelmeier vom Sozialverband auf die Notwendigkeit von Migration. „Wir werden künftig noch mehr davon benötigen, wenn wir werden totalen Pflegekollaps irgendwie verhindern wollen.“
Auch die wirtschaftsliberale Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft kritisiert den Regierungskurs in Sachen Pflege und Krankenversicherung, Alsleben warnt vor den bisher „größten Beitragssprüngen“. „Kostendämpfende Reformen fehlen, das vereinbarte Primärärzte-System wird bislang ignoriert, und Rücknahmen der Krankenhausreform gefährden Effizienz.“
Koalition schon nach 100 Tagen im Dauerstreit
Während das Institut der deutschen Wirtschaft ebenso wie die INSM für das „Gelingen“ der Bundesregierung in den nächsten 100 Tagen besonders die Wirtschaftswende hinaus aus der Krise und einen Umbau des Sozialstaats anvisieren, will der SoVD genau diesen in unsicheren Zeiten stärken.