„Frontalangriff auf den Sozialstaat“: Armutsforscher entsetzt über Bürgergeld-Debatte

  1. Startseite
  2. Wirtschaft

Kommentare

FDP und Oppositionsparteien fordern Kürzungen von Sozialleistungen, um die Haushaltskrise zu lösen. Der Armutsforscher Christoph Butterwegge hält das für ein fatales Signal.

Köln – Das Bundesverfassungsgericht hat den Haushalt der Ampel-Regierung einkassiert. 60 Milliarden Euro muss die Koalition aus SPD, Grünen und FDP nun einsparen, solange sie sich nicht auf die Abkehr von der Schuldenbremse einigt. In den populistischen Fokus gerät dabei immer mehr der verhältnismäßige kleine Posten der Bürgergelderhöhung zum 1. Januar 2024, der sich auf 4,8 Milliarden Euro belaufen wird. Der Armutsforscher und Politik-Professor Christoph Butterwegge warnt jetzt im Gespräch mit IPPEN.MEDIA vor einer völlig fehlgeleiteten Debatte.

Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln unterrichtet und zuletzt das Buch „Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt“ veröffentlicht. FR W. Schmidt
Der Armutsforscher Christoph Butterwegge hält die Kürzungsforderungen von Sozialleistungen für ein fatales Signal. Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln unterrichtet und zuletzt das Buch „Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt“ veröffentlicht. © Wolfgang Schmidt

Bürgergeld: Armutsforscher warnt vor Kürzungen auf Kosten der Ärmsten

„Der Ruf nach Einschnitten beim Bürgergeld ist ein Frontalangriff auf den Sozialstaat“, erklärt Butterwegge gegenüber IPPEN.MEDIA. „Der Stammtisch-Populismus ist damit in der Mitte der Politik angekommen. Diejenigen, die eigentlich als Verteidiger des Sozialstaates agieren sollten, greifen ihn nun an – und wollen die Ärmsten zur Kasse bitten.“ In der Bürgergeld-Debatte verschärft sich indes der Ton. Zuletzt hatte die FDP eine Nullrunde für die Leistung gefordert.

Der Politikwissenschaftler mahnt: „Das populistische Bild, das in einschlägigen Medien und leider inzwischen auch von vielen Politikern gezeichnet wird, nämlich dass es Menschen gibt, die weniger mit Arbeit verdienen als die anderen, die auf der Couch sitzen, und dafür mehr Geld kassieren, stimmt so einfach nicht.“ Laut dem Paritätischen Armutsbericht von 2022 leben in Deutschland mehr als 14 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze. „Dennoch erhielten im Jahr 2023 nur etwa 5,3 Millionen Menschen Bürgergeld“, erklärt Butterwegge.

Dies lasse sich auf mehrere Gründe zurückführen: Erstens seien die bestehenden Sozialleistungen zu niedrig, um der Einkommensarmut zu entkommen, da sie unter der von der EU festgelegten Armutsrisikogrenze liegen. Zum zweiten nähmen viele berechtigte Menschen ihre Ansprüche auf Sozialleistungen nicht wahr. Dazu gehörten auch diejenigen, die möglicherweise nicht einmal wissen, dass es das Bürgergeld gibt: „Besonders betroffen sind Beschäftigte im Niedriglohnsektor, aber auch vermindert Erwerbsfähige und Rentner.“

„Der eigentliche Skandal ist nicht ein zu hohes Bürgergeld, sondern zu niedrige Löhne“

Das Problem sei also nicht das angemessen steigende Bürgergeld, „das Problem sind die zu niedrigen Löhne im Mindestlohnbereich. In dieser schrillen Debatte wird übersehen, dass das Bürgergeld auch als Aufstockung zu einem geringen Lohn dient. Rund eine Million Bezieher gehen arbeiten, verdienen dabei aber so wenig, dass sie Bürgergeld beziehen“, sagt Butterwegge.

„An dieser Stelle stimme ich Markus Söder zu: Der Mensch, der arbeitet, sollte mehr verdienen, als der, der nicht arbeitet. Selbst wenn das Gegenteil stimmen würde, läge der Grund nicht in einem zu hohen Niveau des Bürgergeldes, das verfassungsgemäß gerade mal ein menschenwürdiges Existenzminimum abdeckt. Der eigentliche Skandal ist, dass die Löhne viel zu niedrig sind.“

„Arme sollen gegen noch Ärmere ausgespielt und zur Kasse gebeten werden“

Die Sorge, dass die Grundsicherung zunehmend in Konkurrenz zum Lohnerwerb treten könnte, sei darum haltlos. Tatsächlich zeigt auch ein Blick in die Statistiken: Der deutsche Arbeitsmarkt hat andere Probleme, weshalb sich auch Ökonomen über die Bürgergeld-Debatte ärgern. Ein Beispiel: Die Zugänge von Personen aus der Reinigungsbranche in die Grundsicherung. Dort gibt es keine Ausschläge seit der Einführung des Bürgergelds. Im Gegenteil: Es sei „überhaupt keine Änderung ersichtlich, der leichte Abwärtstrend setzt sich fort“, so der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Enzo Weber.

„Die Legenden von vermeintlichen ‚Sozialgeschenken‘ fördern die Annahme, es würden willfährig Gelder verteilt. Tatsächlich beruhen Bürgergeld und andere Transferleistungen auf dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes. Es gibt einen Rechtsanspruch darauf“, erklärt Butterwegge. Solche Bilder schürten den Sozialneid nach unten: „Arme sollen gegen noch Ärmere ausgespielt und zur Kasse gebeten werden.“ So wachse die soziale Ungleichheit weiter: „Das macht mir große Sorgen.“

Fakt ist: Die Erhöhung des Bürgergeldes mit Kosten von 4,8 Milliarden Euro sind eine bescheidene Summe verglichen mit anderen Posten der Bundesregierung – den geschätzten 100 Milliarden Euro, die Deutschland jährlich durch Steuerhinterziehung verliert, 65 Milliarden Euro, die durch klimaschädliche Subventionen eingespart werden könnten und „vielen weiteren Milliarden, die dem Staat durch Steuerprivilegien entgehen“, so Butterwegge.

Auch interessant

Kommentare