SPD-Parteitag in Berlin - Mit einem Begriff empört Scholz sogar seine Jubel-Genossen
Die SPD will kämpfen, allen voran ihr Kanzlerkandidat Olaf Scholz. So steht es nicht nur auf den Wahlplakaten, die in diesen Tagen aufgehängt werden. Scholz und die Parteivorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken versichern es auch vielfach in ihren Reden auf dem SPD-Parteitag in Berlin am Samstag.
Gemeint ist eigentlich der Kampf für eine sozialdemokratische Politik nach der Bundestagswahl – der Kampf um die Existenz als Regierungs- und Volkspartei hängt damit aber eng zusammen. Am Freitag vor dem Parteitag veröffentlichte die Forschungsgruppe Wahlen eine Umfrage, in der die SPD mit 14 Prozent noch hinter den Grünen nur auf dem vierten Platz landete.
Umfragewerte für SPD „ein Stück weit belastend“
Die Aufholjagd, die Scholz und die Parteispitze seit Wochen ankündigen: Sie bleibt bislang aus. Darauf angesprochen, geben sich die Delegierten zwar betont gelassen. Aber bohrt man nach, blitzt doch eine gewisse Nervosität auf. Die schlechten Umfragewerte „lassen sich nicht leugnen“, sie seien „ein Stück weit belastend“, man habe sich „schon vor Weihnachten ein oder zwei Prozentpunkte mehr gewünscht“.
Zuversicht speisen die Sozialdemokraten daraus, dass der Wahlkampf jetzt erst so richtig losgeht. „Wenn ich im Wahlkreis unterwegs bin, wird mir nicht die Tür vor der Nase zugeschlagen. Die Menschen wollen sich erstmal genau anhören, was wir zu bieten haben“, berichtet eine Bundestagsabgeordnete. Der Parteitag soll Antworten darauf in die Welt senden und damit nun wirklich der Startschuss für eine Aufholjagd sein.
Scholz spricht von „normalen Leuten“ – wen meint er?
Welchen Schlachtplan hat Olaf Scholz also entworfen? In seiner Rede geht es über weite Strecken um die sozialpolitischen Pläne: sichere Renten, bezahlbare Mieten, 15 Euro Mindestlohn. Die Zielgruppe dieser Politik erwähnt Scholz auffällig oft. „Die ganz normalen Leute sind die wahren Leistungsträger in unserem Land, nicht die oberen Zehntausend“ erklärt er.
Die „normalen Leute“ kommen in der Rede so oft vor, dass sich auch die Delegierten darüber wundern. Mehmet König, Vorstandsmitglied der Berliner SPD, fragt sich, wen Scholz meint. „Bin ich als queerer Mann mit Migrationshintergrund normal? Olaf verunsichert damit viele Menschen, die ihre Hoffnung in sozialdemokratische Politik setzen“, sagt König im Gespräch mit FOCUS online.
Aber auch aus anderer Richtung muss sich Scholz Kritik gefallen lassen. Eigentlich will er für mehr Zusammenhalt und gegen Spaltung kämpfen. Mit seinem Fokus auf „normale Leute“ setzt der Kanzler aber klassenkämpferische Töne und bringt gutverdienende Leistungsträger in Verruf. Diese Abgrenzung geschieht aber offenbar bewusst.
Der „Oppositionsführer“ bleibt ohne Namen
Denn das zweite Motiv, das Scholz‘ Rede prägt, ist die Abgrenzung von der CDU und deren Kanzlerkandidat Friedrich Merz. Er sei es, der Politik für die oberen Zehntausend mache. Scholz schürt die Angst vor dem „Oppositionsführer“ und „Sprücheklopfer“, den er kein einziges Mal beim Namen nennt. Die Menschen würden sich die Zunge an der Suppe verbrennen, die von der CDU angerührt werde. „Vergünstigungen für Spitzenverdiener reisen einen riesigen Krater in den Haushalt“, erklärt der Kanzler.
Nicht allen ist das deutlich genug. „Wenn Scholz sagt, kämpfen zu wollen, denke ich mir nur: Ne, so aber nicht“, resümiert eine Delegierte nach der Rede. Am stärksten sei Scholz bislang gewesen, als er seinen Herausforderer „Fritze Merz“ direkt anging und ihm „Tünkram“ vorwarf.
Selbst die Jusos sind zahm
Kritische Stimmen sind auf dem Parteitag aber eher eine Seltenheit. „Geschlossenheit haben wir. Jetzt braucht es noch Entschlossenheit, damit wir unser Potenzial ausschöpfen können“, sagt ein Delegierter.
Selbst diejenigen, die im Kandidatenstreit um Scholz und Pistorius im vergangenen Jahr zu den ärgsten Kanzler-Kritikern zählten, sichern nun volle Unterstützung zu. Auch Philipp Türmer, Chef der SPD-Jugendorganisation, gibt sich zahm – ihm hat Scholz allerdings auch zuvor geschmeichelt, indem er die Juso-Idee einer WG-Garantie für Studierende übernommen hat.
Scholz-Wahl nicht ganz ohne Gegenstimmen
Schließlich wählen die Delegierten nahezu geschlossen Scholz offiziell zum Kanzlerkandidaten. Nicht viel mehr als eine Handvoll stimmt gegen ihn. Einer von ist Mehmet König. Es sei keine ausgemachte Sache gewesen, auf dem Parteitag gegen Scholz zu stimmen. „Die Rede hat den Ausschlag gegeben“, erklärt er.

„Neben dem populistischen Verweis auf die ‚normalen Leute‘ hat mich auch gestört, dass Olaf über ‚irreguläre Migration‘ gesprochen hat. Wir haben als Partei eigentlich vereinbart, diesen Begriff nicht mehr zu verwenden.“ Wie König stammen auch die meisten der anderen Delegierten, die gegen Scholz gestimmt haben, aus dem eher linken Berliner Landesverband.
Von der Parteilinken kamen vor dem Parteitag auch die meisten Änderungswünsche am Wahlprogramm, das am Samstag offiziell beschlossen wurde. Letztlich ging es dabei aber eher Detailfragen, nicht um die großen Linien. Beispielsweise wollte der linke Flügel die Kindergrundsicherung noch in das Programm aufnehmen, andere halten das Thema durch die Politik von Familienministerin Lisa Paus (Grüne) für verbrannt. Weitestgehend ohne Grummeln konnten aber Kompromisse gefunden werden.
SPD-Delegierte gedanklich schon bei Großer Koalition?
Wohin kann dieses Programm und Scholz als Kanzlerkandidat die SPD bei der Bundestagswahl tragen? Auch wenn alle Delegierten nach wie vor den Wahlsieg ausgeben, fällt hinter vorgehaltener Hand immer wieder eine Zahl: 20 Prozent. Das sei realistisch und angesichts der aktuellen Umfragewerte ein ordentliches Ergebnis. Allerdings: Mit 20 Prozent würde die SPD ihr historisch schlechtestes Ergebnis einfahren, eine weitere Scholz-Kanzlerschaft wäre so gut wie ausgeschlossen.
Entsprechend scheinen viele sich gedanklich schon auf den Eintritt in eine Koalition mit der Union einzustellen – als Juniorpartner. Zwar sei man in dieser Konstellation schon oft von den Wählern abgestraft worden. Aber das Beispiel Österreich zeige, dass man nicht in die Opposition flüchten dürfe, sondern staatspolitische Verantwortung übernehmen müsse.
Viel Applaus für möglichen Esken-Ersatz
In dieser neuen Rolle müsste sich die SPD dann möglicherweise auch personell neu aufstellen. Ein präsentes Thema auf dem Parteitag ist das zwar nicht. Manch einer mag sich während der Redebeiträge aber schon einmal überlegt haben, wer künftig an die Stelle der Parteivorsitzenden Klingbeil und Esken treten könnte. Auffällig: Die saarländische Ministerpräsidentin Anke Rehlinger, immer wieder als Esken-Ersatz gehandelt, erhielt ebenso wie der Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich viel Applaus.
Angesichts solcher Überlegungen kann Scholz sich noch so abmühen – seine Kampfansagen wirken dann doch ziemlich verzweifelt.