Gastbeitrag von Gabor Steingart - Auch wenn AfD und Kanzler es wollen: Wir brauchen keine Nostalgie, sondern Mut

Die westliche Welt leidet nicht zuerst an den Folgen von Krieg, Migration, Klimaerwärmung und Donald Trump. Sie leidet zuerst an einer Überdosis Nostalgie – und täglich wird nachgespritzt.

Pax Americana: Die Mehrheit der US-Wähler hofft auf eine Rückkehr der nach dem Weltkrieg eingeübten hegemonialen Verhältnisse – kulturell, militärisch und industriell. Der tief empfundene Wunsch nach jener Überlegenheit, als US Steel ein Riese und nicht ein Übernahmekandidat war, ist der wichtigste Treiber für Trump.

Todesstrafe Isolation: Doch America First ist die Sehnsuchtsvokabel einer untergehenden Zeit. Der Aufstieg Chinas, die ebenfalls nostalgischen Sehnsüchte in Russland und die atomare Ertüchtigung anderer Autokraten machen die Rückkehr zur alten Welt- und Schlachtordnung unmöglich.

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Wenn die amerikanischen Wähler weiter träumen, werden sie in einer Welt der Handelskriege, der Parallelwährungen und der politischen Isolation aufwachen. America First ist keine Fortschrittserzählung, sondern der Rückruf in die Geschichte.

Moderne Technologie wäre bekömmlicher

Klimapanik: Der wichtigste Referenzpunkt der Klimaschutzbewegung ist die vorindustrielle Temperatur der Jahre 1850 bis 1900. Die Entdeckung und Ausbeutung unterirdischer Wälder, die sich zwischenzeitlich in Gas, Kohle und Öl verwandelt haben, brachte im Zuge der Industrialisierung enorme Wohlstandsschübe, aber löste eben auch autoaggressive Eigendynamiken aus. „Allmählich nimmt der Begriff Welt“, so hat es Peter Sloterdijk unlängst notiert, „die Bedeutung von Tatort an“.

Im Lichte der neueren wissenschaftlichen Erkenntnis möchte man den Anstieg der Welttemperatur auf 1,5 Grad oberhalb der vorindustriellen Temperatur begrenzen. Sagt man. Schreit man. Die Verzweiflung verstärkt sich zum Panikschub, je dichter der Tag rückt, an dem die Unmöglichkeit der Zielerreichung sich abzeichnet.

Es wäre der Menschheit (und der Ökologiebewegung) bekömmlicher, man würde von vorindustrieller Nostalgie auf technologische Moderne umschalten, Kernenergie, Kernfusion und Wasserstoffflugzeug inklusive. Der Westen braucht nicht die „Wende zum Weniger“ (Bernd Ulrich), sondern ein modernes Marktdesign, das der Natur neben ihrem Wert auch einen Preis gibt.

Die Klimawende kommt, aber langsamer. Der Gedanke, dass die Worte „Temperatur“ und „temporär“ verwandt sind, darf wieder gedacht werden.

Deutschland ist heute global oder gar nicht

„Deutschland den Deutschen“: Auch die AfD ist – wie alle anderen Rechtspopulisten weltweit – eine dem Wesen nach nostalgische Partei. Man wünscht sich ein Höchstmaß an ethnischer Homogenität – im Wohnviertel und in der Schule.

D-Mark-Nostalgie: Wehmütig erinnert man sich an jene Zeit, als in der Schule der gekreuzigte Jesus für Andacht und nicht für Ärger sorgte. Als an der Grenze ein Zöllner und nicht ein Schlepper wartete und es auf dem Markplatz nach Currywurst roch und nicht nach Cannabis.

Aber die Rückkehr zum Deutschland der Fünfziger- und Sechzigerjahre, als man hinterm eisernen Vorhang lebte und ermattet von der Nazigeschichte sein Feierabendbier trank, ist irreal. Das heutige Deutschland ist global oder gar nicht. Die Migration verliert in der Sekunde ihren Schrecken, in der Grenzen wieder begrenzen und der Staat seinen sicherheitspolitischen Dornröschenschlaf beendet.

Nostalgische Verklärung des Wirtschaftswunders

Goodbye Deutschland AG: Auch die politischen Eliten träumen – der Bundeskanzler vornweg – den Traum von der Wiederherstellung jener Zeit, als sich hierzulande ein Wirtschaftswunder ereignete. Als die Energie billig, die Weltmärkte offen und „Made in Germany“ das Maß aller Dinge war.

Das Zielbild der heutigen Politiker ist die Rückkehr zu Ludwig Erhard und nicht der Aufbruch in die digital vernetzte Dienstleistungsgesellschaft, die in ihren Produkten und ihrer Arbeitskultur das Stoffliche und Starre zu überwinden versucht.

Erst die nostalgische Verklärung des damaligen Wirtschaftswunders hat den Typus des Rettungspolitikers hervorgebracht, der mit Schutzzöllen und Subventionen die Bruchstücke des vormals Ganzen zu bewahren versucht – die Papierzeitung, das gebundene Buch, den Hochofen, den Verbrennungsmotor, den Industriestrompreis und letztlich auch den kollektiv organisierten Sozialstaat des Industriezeitalters.

Der Westen verpasst vor lauter Abschieden die Zukunft

So verpasst der Westen vor lauter Abschieden die Zukunft. Auch weil die kreative Zerstörung des Bisherigen für Schumpeter zwar eine lustvolle Notwendigkeit war, aber für Milliarden von Menschen eine Zumutung bedeutet.

Ihr Fluchtinstinkt und ihre Empörungsbereitschaft lassen sich leicht aktivieren. Der ewig Aufgebrachte – „Unglaublich!“, „Krass!“, „Wahnsinn!“ – wohnt neben, vor und in uns. Wir stehen mit einem Bein in der Gegenwart und kleben mit dem anderen in der Vergangenheit fest. So entsteht Frust, aber kein Fortschritt.

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Fazit: Der Zuversichtliche mobilisiert in dieser Situation nicht die Angst und das Ressentiment, sondern seinen angeborenen Tastsinn. Der Westen braucht in dieser Passage des Übergangs nicht Nostalgie, sondern Mut – auch den zur strategischen Gelassenheit. Das Restrisiko des Scheiterns lässt sich nur um den Preis des garantierten Scheiterns vermeiden. Oder wie Peter Sloterdijk sagt:

„Die Geschichte gleicht einer Fahrt durch einen schwach beleuchteten Tunnel.“