Gastbeitrag von Gabor Steingart - Wie sehr sich die Polit-Elite vom Volk entkoppelt hat, zeigt ein Berliner Bauprojekt
Nachdem das Attentat auf Donald Trump den Blick auf die zerrissene amerikanische Gesellschaft freigab, sprechen alle – auch hierzulande – wieder vom Bürgerdialog, den es zu pflegen gilt. Auf dass Polarisierung und politische Überhitzung keine Chance haben.
In der Theorie ist alles klar. Die Parteien sollen sich streiten, aber nicht hassen. Der Bürger ist nicht der Untertan, sondern der König der Demokratie. Auf dem Papier des Grundgesetzes und im Sandstein des Reichstagsgebäudes steht es geschrieben:
„Dem deutschen Volke.“
Unsere Parteien lobpreisen den Bürgerdialog
Unsere Parteien verehren in ihren Wahlprogrammen nicht nur den Bürger, sondern – in der Aktivierung liegt die Kraft – lobpreisen auch den Bürgerdialog. Im Koalitionsvertrag der drei Ampel-Parteien heißt es:
„Wir wollen die Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung erweitern und Bürgerdialoge stärken.“
Die Tatsache, dass seitdem weder die Bürgerbeteiligung erweitert, noch der Bürgerdialog gestärkt wurde, ist kein Spezifikum von Roten, Grünen und Liberalen. Wenn es denn einen Grundkonsens der Parteien in Deutschland gibt, dann den, es mit der Demokratie nicht zu übertreiben.
Wer griffiger formuliert als Olaf Scholz, ist ein Populist. Volksbegehren gelten den Politikern nicht als belebend, sondern als gemeingefährlich. Schon bei den Vorstandswahlen jedweder Partei hat der Satz des SED-Oberen Walter Ulbricht die Zeitläufte überdauert:
„Es muss alles demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“
Bürgerforum: Symbol für Doppelbödigkeit
Als Symbol für diese Doppelbödigkeit der Verhältnisse kann das Bürgerforum gelten, das bei der Neugestaltung des Berliner Regierungsviertels zunächst eine wichtige Rolle spielte.
Die beiden Berliner Architekten Axel Schultes und Charlotte Frank hatten den Architektenwettbewerb 1992 gewonnen. Sie waren sich der Symbolik ihres Entwurfs bewusst. Ihnen ging es darum, mit den Bauwerken zweier Diktaturen in den Dialog zu treten.
Insbesondere dem Großmachtstreben der Nazis, die eine Nord-Süd-Achse durch die Berliner Innenstadt geplant hatten, die wiederum in eine „Halle des Volkes“ münden sollte, wollte man eine demokratische Konfiguration entgegensetzen.
Aber auch das drei Jahrzehnte lang geteilte Berlin sollte durch das Areal, das zweimal die Spree, die frühere Grenze zwischen Ost und West, kreuzt, zusammenwachsen. Es galt das Motto: Mehr Luft und Durchlässigkeit wagen.
Weltweiter Zuspruch für „Band des Bundes“
Die Idee war urdemokratisch und daher bestechend: Entlang des kurvenreichen Spreeverlaufs sollte die Exekutive, also das Kanzleramt, mit der Legislative, also dem Bundestag, verbunden sein.
Und als Verbindungsstück zwischen beiden würde ein Bürgerforum entstehen, das auf einer imposanten Fläche die Menschen der Machtzentralen zwingen würde, in den direkten Austausch mit dem Bürger zu treten, dem geschundenen und gequälten Subjekt zweier deutscher Diktaturen.
Architektur der Demokratie: Der Entwurf für ein 900 Meter langes „Band des Bundes“ im Berliner Spreebogen erhielt für die Idee, Hitlers architektonische Großmannssucht namens Germania mit einer Architektur des Dialogs zu erwidern, weltweit Zuspruch.
Bürgerforum als Verbindung von Kanzleramt und Paul-Löbe-Haus
Das Bürgerforum als städtebauliche Verbindung von Kanzleramt und Paul-Löbe-Haus sollte ein Ort zivilisierter Öffentlichkeit sein – mit Cafés, Galerien und einer Art Forum Romanum, wo sich die verschiedenen Teilgesellschaften in friedlicher Absicht begegnen könnten: Dialog statt Diktatur. Das neue Deutschland hatte gesprochen.
Doch kaum war der Applaus verklungen, verstummte dieses neue Deutschland schon wieder. Alles aus dem Entwurf der beiden Architekten wurde verwirklicht, nur das Bürgerforum nicht. Das Kanzleramt erfährt mittlerweile auf der anderen Spreeseite seine Verdopplung der Bürofläche.
Eine eigene Brücke – 3,80 Meter breit und ausgestattet mit Schwingungsdämpfern für die gepanzerte S-Klasse des Regierungschefs – wurde gebaut. Der Reichstag beherbergt mittlerweile mehr Abgeordnete als der amerikanische Kongress.
Bürgerforum aus Kostengründen gestrichen
Nur das Bürgerforum wurde aus Kostengründen gestrichen. Kanzler Helmut Kohl war prinzipiell dagegen; seine Nachfolger Schröder, Merkel und Scholz zeigten ebenfalls kein Interesse.
Schließlich wurde auf der Fläche eine Straße gebaut; Beton statt Bürgerdialog. Die Berliner Bausenatorin Katrin Lompscher von der Linkspartei ließ 2018 den Bebauungsplan dauerhaft ändern.
Das Band des Bundes werde damit „handstreichartig beerdigt“, beschwerte sich Hans Stimmann, Berlins früherer Senats-Baudirektor. Für ihn „ein Tiefpunkt der Kultur städtebaulichen Planens“.
Auch der preisgekrönte Architekt Axel Schultes konnte sein Unglück kaum fassen. Ausgerechnet eine schnöde Straße, so schrieb er im Tagesspiegel, „halbiert einen Ort, der noch keiner ist“. Damit war für ihn das „politikonografische Herzstück des Spreebogens“ zerstört und ein großes demokratisches Versprechen gebrochen.
Fazit: Die polarisierten Verhältnisse, die nicht nur in den USA den öffentlichen Raum in eine Zone der Feindseligkeit verwandelt haben, kommen nicht von ungefähr. Die Entkopplung zwischen politischer Elite und Volk hat eine lange Vorgeschichte.
Oder anders formuliert: Die Scharfschützen liegen überall – nicht nur auf einem Hausdach in Pennsylvania. Ein gestrichenes Bürgerforum im Berliner Regierungsviertel bedeutet noch keinen Anschlag auf die Freiheit, aber einen Streifschuss für die Demokratie bedeutet es schon.