Neue Waffe im Krieg: Ukraine schießt mit „Dragon H73“ aus Sowjet-Rakete und US-Humvee

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Mit Cleverness verwehrt die Ukraine Putin die Luftüberlegenheit. Erfolgreiche Billig-Waffen stellen den Sinn von Super-Kampfjets wie der F-35 infrage.

Kiew – „Die Ukraine braucht jeden Vorteil, um Russland von ihrem Territorium zurückzudrängen“, schreibt Hanna Arhirova. Im März 2024, also zwei Jahre nachdem Wladimir Putins Invasionsarmee die Ukraine überfallen hatte, berichtete sie für die US-Nachrichtenagentur Associated Press (AP) darüber, dass die Ukraine Russlands Übermacht an Mensch und Material mit Cleverness und Fleiß begegnen müsste. Jetzt hat die Ukraine eine neue Waffe an die Front geschickt – genauer: eine alte in neuem Gewand.

Eine R-73-Rakete unter einer Flugzeugtragfläche
Zweckentfremdet: Die R-73-Rakete wird normalerweise von Flugzeugen aus gestartet. Die Ukraine setzt die Kurzstreckenrakete inzwischen auch vom Boden oder von der See aus ein – die Startschiene wird offenbar dort angebracht, wo sie passt, jetzt auch auf ein US-amerikanisches Gefechtsfahrzeug, den Humvee. © IMAGO/RIA Novosti

Wie die Kyiv Post aktuell berichtet, präsentiert die 3. Sturmbrigade der Ukraine jetzt den Dragon H73 vor, ein selbstgebautes mobiles Luftabwehrsystem aus sowjetische R-73-Raketen mit einem amerikanischen Humvee (High Mobility Multipurpose Wheeled Vehicle) kombiniert, um Drohnen und Kampfflugzeuge anzugreifen — die Einheit habe die Waffe auf ihrer Facebook-Seite angekündigt als „mächtiges Mittel gegen Drohnen und taktische Flugzeuge“, wie das Medium schreibt. Laut „Shaman“ sei die Waffe ideal geeignet gegen Orlan- oder Shahed-Drohnen – beide Waffenarten sind wohl die gefährlichsten für die Ukraine, weil sie in immenser Stückzahl vorliegen. „Wir setzen sie rund um die Uhr ein, Tag und Nacht“, so der Kommandant der Sturmbrigade gegenüber der Kyiv Post.

Putins Albtraum im Ukraine-Krieg: Kiew kann auf alte sowjetische Luftkampfraketen zurückgreifen

„Die Ukraine hatte einen Haufen alter sowjetischer Luftkampfraketen herumliegen; jetzt feuert sie sie von jedem verfügbaren Abschussgerät ab“, schreibt das Magazin Forbes. Gerade erst hat die Ukraine mit der R-73-Rakete auf einer Magura-Drohne einen russischen Kampfjet vom Himmel geholt. „Die vielfältigen Luftverteidigungskapazitäten der Ukraine haben sich als widerstandsfähig gegen anhaltende russische Angriffe erwiesen“, schrieben Giorgio Di Mizio und Michael Gjerstad im Februar. Die beiden Autoren sprechen in ihrer Analyse für den Thinktank International Institute for Strategic Studies (IISS) von einem „reichlichen Vorrat“ ukrainischer Luft-Luft-Raketen vom Typ Vympel R-73 (Nato-Bezeichnung RS-AA-11A Archer).

Ein Lichtblick ist die kleine, aber schnell wachsende Rüstungsindustrie, die die Regierung mit Geld überschwemmt, in der Hoffnung, dass eine Flut selbstgebauter Waffen und Munition das Blatt wenden kann.

Diese Raketen aus der Sowjetzeit sollen die Wärmesignaturen heißer Düsentriebwerke über eine Entfernung von bis zu 30 Kilometer verfolgen können, schreibt Forbes-Autor David Axe. Die Rakete war im Warschauer Pakt weit verbreitet, dort zum Nato-Schrecken avanciert, und ist nach der Wiedervereinigung beziehungsweise der Auflösung der Nationalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik in den Westen gelangt, wie 2021 das indische Magazin Indian Defence Review (IDR) schrieb.

Bei Russlands Krieg in der Ukraine gehe es nicht darum, wer die besseren Drohnen oder Raketen habe, sagte Serhii Pashynskyi, gegenüber der Nachrichtenagentur Associated Press. „Wir befinden uns in einem Krieg mit Russland, in dem es nur um zwei Ressourcen geht: Arbeitskräfte und Geld“, erklärte der Vorsitzende der Nationalen Vereinigung der ukrainischen Verteidigungsindustrie. „Und wenn wir lernen, diese beiden grundlegenden Ressourcen zu nutzen, werden wir gewinnen. Andernfalls werden wir große Probleme haben.“

Raketen-Nöte im Ukraine-Krieg: Die bereitgestellten Waffen hinterließen immer wieder kritische Lücken

Laut dem Magazin The War Zone (TZW) ist die Ukraine mit dem Raketentyp R-73 trotz der findigen Lafettenlösungen auf Fahrzeugen oder Drohnen in der Nutzung eingeschränkt. TWZ-Thomas Newdick schreibt, ein Bodenstart bedeute eine geringere Reichweite, da die Rakete nicht von den Geschwindigkeits- und Höhenparametern eines Trägerflugzeugs profitieren würde. Insofern sei die maximale Distanz der Waffe zu reduzieren auf die Sucherreichweite des Kopfes der R-73, die beim Bodenstart weitgehend unverändert bei zehn bis zwölf Kilometern bliebe.

Die Vermischung von Angriffswaffen sei ein Charakteristikum der Kampfweise der Ukraine, hat schon Ende des zweiten Kriegsjahres die New York Times beobachtet. Die von den westlichen Partnern bereitgestellten Waffen hinterließen immer wieder kritische Lücken, die die Ukraine schließen musste – meist aus einer Kombination ihrer Bestände aus Sowjetzeiten mit modernen Plattformen. Wäre ihnen das misslungen, hätte der Ukraine-Krieg wahrscheinlich schon längst geendet. Die Waffen sind sozusagen ein Anachronismus in einem Krieg, der die Richtung vorgibt für den Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Waffen der Sowjetunion kämpfen in einem Krieg, den die Sowjetunion dank dieser Waffen verhindern wollte – und die dennoch untergegangen ist, bevor sie eine dieser Waffen abfeuern konnte.

Ukraine-Krieg: Die R-73 steht symbolisch für die Transformation des Krieges an sich

Die enormen Verluste an Menschen und Material, die die Reaktivierung und Umfunktionierung eingelagerter Waffen notwendig machen, hätten weltweit gravierende Auswirkungen, schreibt Mick Ryan im Magazin Foreign Affairs. Dem pensionierten Generalmajor der australischen Armee und Analyst für Militärstudien am Lowy Institute in Sydney zufolge sind viele politisch Verantwortliche nach dem Ende des Kalten Krieges sicher gewesen, die Ära der großen konventionellen Kriege sei vorüber. Weltweit hätten die Sicherheitschefs der verschiedenen Länder ihre Streitkräfte, Munitionsbestände und Produktionskapazitäten drastisch verkleinert.

Offenbar ist heute kein mittelgroßes Land mehr in der Lage, einen länger währenden konventionellen Krieg zu führen. Und Raketen wie die R-73 legen noch einen Umstand offen: Die Unsicherheit, wie ein kommender Krieg überhaupt zu führen sein wird. Die R-73 steht symbolisch für die Transformation des Krieges an sich. Ein Relikt aus einem längst überlebten Staatenbund ist eine der effektivsten und günstigsten Waffen in einem Krieg der Gegenwart und der Zukunft – der gerade dabei ist, mit ganz anderen Waffen geführt zu werden. Machen ein Humvee und ein paar alte Raketen Millionen schwere Kampfpanzer obsolet, weil die kleinen Gefechtsfahrzeuge viel flexibler, viel günstiger, viel nützlicher, weil viel verschmerzbarer sein werden?

Drohnen-Zukunft: Welche Aufgabe haben Kampfflugzeuge, wie eine rund 100 Millionen teure F-35?

Lohnt sich heute das Investment in einen Panzer, der vielleicht erst in zehn Jahren in ausreichender Stückzahl mit genügend Abschreckungspotenzial auf ein Gefechtsfeld rollt? Welche Aufgabe haben noch Kampfflugzeuge, wie ein rund 100 Millionen teurer F-35-Kampfjet, wenn die Luftabwehr von einem einfachen kleinen Mannschaftstransporter aus möglich sein wird? Die Erfolge der ukrainischen Luftverteidigung drängen auf Antworten auf diese Fragen – die Bedeutung reicht weit über das Schlachtfeld hinaus. Die Ukraine hat sich mit einfachen Mitteln und trotz der nur mäßigen beziehungsweise verspäteten Lieferung westlicher Technik der Überlegenheit Russlands über ihrem Territorium verweigert. Sie hat den Himmel über der Ukraine weitgehend freigehalten und ihren Bodentruppen Raum zum Operieren gelassen; was wiederum Russland Bewegungsfreiheit genommen hat.

Das wirkt auch psychologisch nach: Einerseits reiben sich russische Truppen auf und beginnen an ihrem Sieg zu zweifeln, andererseits bleibt das Vertrauen der ukrainischen Zivilisten sowie der kämpfenden Truppe in ihre Eigenmächtigkeit bestehen. „Die Ukraine zehrt nach dem Kollaps der Sowjetunion von ihrem Erbe in Rüstungstechnik und vor allem in deren High Tech. Deshalb verfügt die Ukraine als Land über die weltweit beinahe schlauesten und kompetentesten Menschen in der Entwicklung von militärischer Technologie. Über Jahrzehnte hat sich deren Erfindungsreichtum entwickelt“, sagt der Analyst Samuel Bendett während eines Forums des US-Thinktanks Center for Strategic and International Studies (CSIS).

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj habe gesagt, die Ukraine errichte das Arsenal der freien Welt, erinnert Atlantic Council-Autor Pavlo Verkhniatsky. Aber das ist in Teilen noch Zukunftsmusik. Der Korridor zwischen der Verwertung des Erbes des Kalten Kriegs und dem Erreichen rüstungstechnischer Autonomie ist breit. Associated Press-Autorin Hanna Ahirova allerdings bleibt optimistisch: „Ein Lichtblick ist die kleine, aber schnell wachsende Rüstungsindustrie, die die Regierung mit Geld überschwemmt, in der Hoffnung, dass eine Flut selbstgebauter Waffen und Munition das Blatt wenden kann.“

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