„Arsenal der freien Welt“: Westen diskutiert Neubewaffnung der Ukraine nach Ende des Kriegs
Weniger Hilfe, mehr Autonomie: Westliche Waffenschmieden bringen sich in Stellung für eine Aufrüstung der Ukraine. Sie wollen profitieren und lernen.
Kiew –„Der Präsident der Ukraine hat unsere strategische Aufgabe klar formuliert: Die Demokratie muss besser bewaffnet sein als die Tyrannei“, sagt Denys Shmyhal. Der Premierminister der Ukraine prophezeite auf dem International Defense Industries Forum am 1. Oktober, dass sein Land daran arbeite, sich bis an die Zähne zu bewaffnen, um eine Wiederholung eines Ukraine-Krieges durch eine hohe Fähigkeit zur Abschreckung bereits im Keim zu ersticken, wie die Regierung auf ihrem Online-Portal schreibt. Der Beitritt zur Nato scheint noch in weiter Ferne. Einen Zwischenschritt könnte die stärkere und damit abschreckendere Bewaffnung der Ukraine darstellen.
Wie die New York Times (NYT) gerade berichtet, bedeute der Aufstieg Donald Trumps zum kommenden Präsidenten der USA faktisch, dass der Handlungsspielraum für die Ukraine eingeschränkt wird – trotz weiter steigender Verluste auf dem Gefechtsfeld. Die Ukraine strebe deshalb danach, „sich als führender Akteur in der Verteidigungsindustrie zu etablieren“, schreibt Pavlo Verkhniatskyi. Der Analyst des US-Thinktanks Atlantic Council beobachtet, dass sich ukrainische Bemühungen derzeit darauf konzentrierten, Partnerschaften im öffentlichen sowie privaten Sektor zu schließen sowie Verteidigungsprogramme von ausländischen Unternehmen auf die eigenen Bedürfnisse zu projizieren.
Lernen vom Krieg: Ukraine ist zu einer Drohnenmacht geworden
„Die Ukraine ist in den letzten Jahren und insbesondere seit Beginn des Krieges zu einer Drohnenmacht geworden“, sagte Ulrike Franke, vom European Council on Foreign Relations gegenüber dem ZDF. Und sie ist sich ziemlich sicher: „Es ist wahrscheinlich, dass die Ukraine aus diesem Krieg als wichtiges Drohnenherstellerland hervorgehen wird.“
„Wir arbeiten weiterhin an einem vollwertigen Raketenprogramm, darunter auch ballistische Raketen. Wir weiten die inländische Produktion aller Arten von Granaten aus. Wir haben sehr bedeutende Produktionsmengen von Artilleriesystemen und verschiedenen gepanzerten Fahrzeugen erreicht. Wir investieren in die Entwicklung elektronischer Kriegsführungsausrüstung.“
Heute produziere die Ukraine so viele verschiedene Waffen, wie dies im Jahr 2022 noch unmöglich schien; im Jahr 2023 habe sich die Waffenproduktion verdreifacht, und bis zum August dieses Jahres nochmal verdoppelt, hatte Shmyhal verkündet – das Forum der Rüstungsproduzenten bildete dazu ein internationales Podium. Vorrangig will die Ukraine wohl Europas Leitindustrie in Drohnen und ballistischen Raketen bilden. Auf dem Forum brachten sich bereits Dänemark und Deutschland in Stellung. Das deutsch-französische Unternehmen KNDS, das bereits mit ukrainischen Partnern zusammenarbeitet, habe die Eröffnung eines Büros in Kiew bekanntgegeben, berichtet der ukrainische Thinktank New Geopolitics Network. Auch Rheinmetall will in der Ukraine Munition produzieren.
Die Nachrichtenagentur Reuters hat auch gerade gemeldet, die Ukraine starte in die „Endphase“ der Gründung dreier neuer Joint Ventures mit europäischen Waffenherstellern. „Über Einzelheiten der Rüstungsindustrie schweigen sich die Behörden noch immer aus, doch Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte im Oktober, die Ukraine könne jährlich vier Millionen Drohnen produzieren und steigere ihre Rüstungsproduktion, darunter Raketen, eine ,Drohnenrakete‘ und Transportfahrzeuge“, schreibt die Nachrichtenagentur.
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Zukunft der Ukraine: . „Wir arbeiten weiterhin an einem vollwertigen Raketenprogramm“
Laut dem Premierminister fokussiere die Ukraine auf den Bau von unbemannten Systemen und weniger auf die Entwicklung beispielsweise von neuem Großkampfgerät. Wie der Thinktank Institute for the Study of War (ISW) Anfang des Jahres geschrieben hatte, habe die Ukraine ihre Kapazitäten zum Bau von Kampfpanzern eingebüßt, aber sowohl ihre Produktion gepanzerter Fahrzeuge erhöht, als auch ihre Kompetenzen in der Reparatur verschieden großer gepanzerter Fahrzeuge deutlich ausgebaut.
Die Ukraine habe klare Prioritäten der zu produzierenden Waffen, sagt Shmyhal. Vor allem seien das verschiedene Arten von Drohnen, zum Beispiel Bodenrobotersysteme. „Wir arbeiten weiterhin an einem vollwertigen Raketenprogramm, darunter auch ballistische Raketen. Wir weiten die inländische Produktion aller Arten von Granaten aus. Wir haben sehr bedeutende Produktionsmengen von Artilleriesystemen und verschiedenen gepanzerten Fahrzeugen erreicht. Wir investieren in die Entwicklung elektronischer Kriegsführungsausrüstung.“
Die innovative Verteidigungsindustrie der Ukraine könne eine Schlüsselrolle für die Sicherheit des Westens spielen, behauptet Atlantic Council-Autor Verkhniatskyi und prophezeit eine Win-Win-Situation für die jetzigen westlichen Partner des kriegsverwundeten Landes. Laut der New York Times soll unter US-Politikern geflüstert worden sein, der amtierende Präsident Joe Biden möge der Ukraine ihre Atomwaffen zurückgeben. „Doch ein solcher Schritt wäre kompliziert und hätte schwerwiegende Folgen“, schreiben die NYT-Autoren. Faktisch hatte die Ukraine nie die Souveränität über die aus der Sowjetzeit dort stationierten nuklearen Waffen. Aufgrund des Zerfalls der Sowjetunion wurden in den 1990er-Jahren bis 2001 alle dort gelagerten Atomwaffen entmilitarisiert. Eine Rückkehr auf den vorherigen Status ist illusorisch.
Comeback der Artillerie: Ukraine will aber auch an Haubitzen Autonomie zurückgewinnen
Seit Kriegsbeginn habe die Ukraine auf den Ausbau ihrer eigenen Produktionskapazitäten für 155-mm-Artilleriegeschosse fokussiert und sei in die Serienproduktion eingestiegen, wie Oleksandr Kamyshin aktuell geäußert hat – die Verteidiger versorgen sich also selbst mit dem Nato-Standard-Kaliber und wollen die Produktion rasant steigern, wie der Industrie-Minister und Berater des Präsidenten gegenüber dem Magazin Forbes prophezeit hat. Die deutsche Rüstungsschmiede Rheinmetall hatte bereits vor einiger Zeit angekündigt, einen Produktionsstandort in die Ukraine zu verlegen, um die Logistik-Kette zur verkürzen. Die Ukraine plant, künftig den Bedarf aus eigenen Mitteln decken zu können.
Ein Novum für das Land, das als Erbe der Sowjetunion nur 152-mm-Granaten verschossen hatte und aufgrund der westlichen Schützenhilfe ihre Artillerie auf Nato-Standard umstellen musste. In diesem Zusammenhang hat die Ukraine auch begonnen, selbstfahrende Haubitzen zu produzieren und sich mit der „Bohdana“ von Systemen wie dem schwedischen Archer, dem französischen Caesar und der deutschen Panzerhaubitze 2000 zu emanzipieren. Grundsätzlich basieren alle Systeme auf dem gleichen Prinzip, wobei der deutsche Kettengigant schwerfälliger ist als die radgestützten Systeme aber dafür mitunter wirkungsmächtiger.
Die Ukraine will aber auch an Haubitzen Autonomie zurückgewinnen und sich vom Mäzenatentum der Westmächte abnabeln – so durchschlagskräftig die Caesars, Archers oder Haubitzen 2000 der Nato-Partner auch sein mögen. Die selbstfahrende Radhaubitze 2S22 Bohdana im Kaliber 155 mm ist eine ukrainische Entwicklung, die in den letzten Monaten Aufmerksamkeit erregte, wie das Magazin Defense Network berichtet. Demnach hatte Präsident Wolodymyr Selenskyj davon gesprochen, bis zu zehn Systeme pro Monat produzieren zu wollen. In erster Prototyp der 2S22 Bohdana sei 2018 in Kiew vorgestellt worden. Anfang 2023 habe die Ukraine die Serienproduktion gestartet.
Selenskyjs großes Versprechen: Die Ukraine errichte das Arsenal der freien Welt
„Die Ukraine zehrt nach dem Kollaps der Sowjetunion von ihrem Erbe in Rüstungstechnik und vor allem in deren High Tech. Deshalb verfügt die Ukraine als Land über die weltweit beinahe schlauesten und kompetentesten Menschen in der Entwicklung von militärischer Technologie. Über Jahrzehnte hat sich deren Erfindungsreichtum entwickelt“, sagt der Analyst Samuel Bendett während eines Forums des US-Thinktank Center for Strategic and International Studies (CSIS).
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj habe gesagt, die Ukraine errichte das Arsenal der freien Welt, erinnert Atlantic Council-Autor Pavlo Verkhniatskyi; allerdings ergänzt Andriy Sagorodnjuk, dass dessen Kosten für den Aufbau einer glaubwürdigen Abschreckungsmacht leicht unterschätzt würden, wie der Analyst des britischen Thinktank Royal Services Institute (RUSI) betont. Mit der Aufrüstung der Ukraine mittels ausgemusterter Vorkriegstechnik sei wenig gewonnen. Die derzeitige Lieferung älterer F-16-Kampfflugzeuge hielte Russland zukünftig nicht auf Distanz.
Aus den Erfahrungen aus dem jetzigen Krieg würden die Armeen der künftigen Kriege geschmiedet, schreibt Sagorodnjuk und beweist das mit einem Aufsatz von Mark Milley im US-Magazin Foreign Affairs. Ihm zufolge habe der ehemalige Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs der USA gewarnt, dass weder das US-Militär noch andere europäischen Armeen mit der sich rasch verändernden Natur der modernen Kriegsführung Schritt halten könnten. Jetzt sei die Zeit für schnellere Forschung und Entwicklung, schnellere Prototypen und schnellere Lieferung auf das Schlachtfeld. Die mehrjährigen Zyklen, die traditionell für neue Waffen erforderlich sind, müssen als unerschwinglicher Luxus der Vergangenheit angesehen werden.
Oder wie Milley schreibt: „Traditionelle Rüstungsunternehmen werden die nächste Generation kleiner, billiger Drohnen nicht entwickeln.“