"Schmutzige Bomben" im Ukraine-Krieg: Russland wirft wohl Giftgas ab

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Chemiewaffen-Alarm: Ukrainische Freiwillige nahe Saporischschja beim Waffendrill unter Bedingungen eines Gasangriffs – das Foto stammt von Beginn des Krieges, als der Einsatz durch Russland gelegentlich vorgekommen sein soll. Jetzt scheint er massiver zu werden (Archivfoto) © IMAGO / Celestino Arce Lavin

Russland scheint von Beginn an einen Gaskrieg gegen die Ukraine geführt zu haben. Je verfahrener die Situation an der Front, desto intensiver die Angriffe.

Saporischschja – „Der Einsatz chemischer Munition durch russische Streitkräfte scheint Teil einer umfassenden, systematischen Praxis zu sein, die während der gesamten Invasion zu beobachten war“, schreibt Sofiia Syngaivska. Die Autorin des Magazins Defense Express berichtet, dass erneut Stellungen der Ukraine bei Saporischschja durch Wladimir Putins Invasionsarmee mit RG-Vo-Giftgasgranaten angegriffen worden seien. Demnach würde Russland ein Kriegsverbrechen begehen – chemische Waffen sind seit dem Genfer Protokoll von 1925 und somit seit fast einem Jahrhundert geächtet.

Defense Express und andere Medien beziehen sich auf einen Telgram-Beitrag des ukrainischen Geheimdienstes HUR: „Derzeit werden an der Frontlinie, insbesondere in der Region Saporischschja in der Nähe der Siedlung Schtscherbaky, zunehmend Fälle registriert, in denen der Feind Giftgasmunition einsetzt“, zitiert Defense Express den HUR – die Granaten würden wohl von Drohnen abgeworfen. Tatsächlich ist der Einsatz dieser Waffe offenbar schon länger bekannt – wie das Magazin Defense Blog berichtet, seit Dezember 2023.

Russlands neue alte Waffe: „Etwa 70 Tropfen dieses Gases reichen aus, um einen Erwachsenen zu töten“

Die Waffe wird in verschiedenen Quellen beschrieben als Handgranate für defensiven Einsatz, beispielsweise aus Schützengräben heraus oder aus anderweitigen Stellungen; sie hat eine Splitterwirkung und soll in einem Umkreis bis zu 20 Metern tödlich sein –statt eines kugelförmigen Körpers besteht die RG-Vo allerdings aus einem zylindrischen Gehäuse. Laut Andrii Rudyk enthalte die RG-Vo-Granate nämlich statt Splittern die giftige chemische Verbindung Chloracetophenon, oder kurz CN, wie der Sprecher des Zentrums für die Erforschung erbeuteter und moderner Waffen und Militärausrüstung des Generalstabs der ukrainischen Streitkräfte in einer Pressekonferenz erklärte.

„Wir sprechen hier nicht von Tränen und Husten, sondern von chemischen Verbrennungen des Kehlkopfs, der Lunge, der Mundhöhle, des Nasenrachenraums und sogar der Haut.“

Laut Defense Blog habe Rudyk erklärt, die „tödliche Toxizität liege bei 11 Milligramm/Minute/Kubikmeter“ – diese Einheit bezeichnet die tödliche Konzentration für die Hälfte der Betroffenen; sie wird gebildet aus der Giftkonzentration und der Dauer der Inhalation. „Etwa 70 Tropfen dieses Gases reichen aus, um einen Erwachsenen zu töten“, erklärte Rudik auf der Pressekonferenz. Ihm zufolge seien allein im Dezember 2023 insgesamt 81 russische Granaten mit giftigen Substanzen eingesetzt und registriert worden. Seitdem hat offenbar die Zahl der registrierten Fälle drastisch zugenommen.

CN sei aber lediglich einer von zwei nachgewiesenen Kampfstoffen, wie die britische Times aktuell berichtet: Demnach setzten die Truppen von Wladimir Putin allein im vergangenen Monat insgesamt 767 Mal Tränengas, Chlorpikrin und andere „nicht identifizierte Chemikalien“ ein, im Februar 844 Mal und im Januar 740 Mal, wie Maxim Tucker schreibt unter Berufung auf die Abteilung für Strahlen-, Chemikalien- und Bioschutz der ukrainischen Streitkräfte (RCBZ). Chlorpikrin gilt als Lungenkampfstoff und wird auch als Pestizid verwendet. Betroffenen droht der Erstickungstod.

Putin unerbittlich: Chemische Waffen ein Zeichen der Bereitschaft internationale Normen zu überschreiten

Damit hätte Russland gegen das Kriegsrecht verstoßen. Seit Juni 1925 gilt das Genfer Protokoll über das „Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder anderen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Kriege“. Das bis heute gültige Protokoll verbietet den Einsatz chemischer sowie biologischer Waffen im Krieg; sie zu entwickeln, herzustellen und zu besitzen, ist jedoch ebenso erlaubt wie sie zu Vergeltungszwecken einzusetzen. Das Genfer Protokoll gehört zu den seit 1864 stetig weiterentwickelten völkerrechtlichen Regelungen zur Kriegsführung. Ein Verbot von „Gift oder vergifteten Waffen“ enthielt bereits die Haager Landkriegsordnung von 1899.

Wie das Magazin The Conversation berichtet, soll der Einsatz chemischer Waffen bereits im April 2022 bekannt geworden sein, also bereits zwei Monate nach der völkerrechtswidrigen Invasion der Ukraine durch russische Truppen. Conversation-Autorin Anneleen van der Meer geht daraufhin davon aus, dass der Einsatz dieser Waffen keinesfalls aus der Not heraus geboren sein könne, wie sie schreibt: „Sollten diese Aussagen zutreffen, würde dies darauf schließen lassen, dass der Einsatz von Chemikalien nicht nur aus dem Bedürfnis der Invasionstruppen resultierte, Lücken in der Versorgung des Schlachtfelds mit konventioneller Munition zu schließen.“

Laut der Professorin am Institut für Sicherheit und globale Angelegenheiten der Universität Leiden sei der Einsatz von Chemiewaffen auch für sie verwirrend: Sie räumt ein, dass die Nutzung beispielsweise der Handgranaten „kurzfristige taktische Vorteile“ gebracht haben möge, sie vermisst aber die strategischen Erfolge in Form einer „nennenswerten Verschiebung der Frontlinien“, wie sie für The Conversation schreibt. Allerdings erkenne sie darin Wladimir Putins unbedingten Willen, sich über tradierte internationale Normen hinwegzusetzen: „Der Einsatz chemischer Waffen ist aber auch ein Zeichen der Bereitschaft, nicht nur das Völkerrecht, sondern auch internationale Normen zu überschreiten.“

Giftgas als Notwehr: Schoigu klagte über „Provokation mit unbekannten chemischen Komponenten“

Van der Meer sieht in Russlands Handeln einen „differenzierten Prozess“ – dessen Bedeutung könnte verdeutlichen, was einige Wochen zuvor Svitlana Slipchenko und John V. Parachini veröffentlicht haben, unter dem Titel „Russlands Lügen über Chemiewaffen“ – auch in diesem Fall behaupten die Analysten, Russlands Handeln fuße darauf, dass sich Russland – auch zu diesem Thema – auf die Opferrolle berufe. Demnach leugne die russische Führung gegen sie erbrachte Beweise und kontere Vorwürfe gegen Rechtsbrüche damit, Chemiewaffenangriffe gegen das eigene Land durch Gegner zu behaupten, wie sie im Magazin The National Interest schreiben.

„Vor dem groß angelegten Einmarsch in die Ukraine warf der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu US-Vertragspartnern vor, eine ,Provokation mit unbekannten chemischen Komponenten‘ zu planen. Präsident Wladimir Putin warnte neben ihm vor einer militärisch-technischen Reaktion‘“, so die Wissenschaftler. Diese Reaktion sieht die Autorin Emma Nix eher gerichtet auf die Lage auf dem Gefechtsfeld: auf dessen Pattsituation und die Unverrückbarkeit der Frontlinien, wie sie in einem Essay für den US-Thinktank Atlantic Council schreibt.

Gegen das Patt im Ukraine-Krieg: Neuerlicher Einsatz von Reizgas eine neue Form der Eskalation

Nix erinnert an die Ursprünge des Einsatzes von Giftgas im Ersten Weltkrieg, um die gegnerische Front zu durchbrechen, weil selbst dauernder Artilleriebeschuss den Gegner nicht aus seinen Schützengräben hat vertreiben können. „Russlands Einsatz von Chemiewaffen könnte darauf hindeuten, dass Strategen die Invasion der Ukraine als Pattsituation betrachten oder diese unbedingt vermeiden wollen“, wie sie vor rund einem Jahr veröffentlicht hat. Demnach könnte vermutet werden, dass der neuerliche Einsatz von Reizgas gegen die ukrainischen Truppen eine neue Form der Eskalation darstellt.

Auch die Times vermutet aufgrund von Aussagen ukrainischer Militärmediziner, dass die chemischen Waffen dazu dienten, die ukrainischen Soldaten aus den Stellungen zu holen, um sie konventionellem Beschuss auszusetzen. Seit Beginn der Invasion im Februar 2022 habe die russische Armee „mindestens 7.730 Mal chemische Kampfstoffe eingesetzt, davon 2.351 Mal seit Jahresbeginn“, behauptete Artem Vlasyuk gegenüber der Times: Der Oberst des RCBZ verzeichnete im September vergangenen Jahres 250 Angriffe mit Chemiewaffen, im Februar 844 – je unbeweglicher der Krieg, desto aggressiver offenbar die russischen Bemühungen, ihn wieder flottzumachen.

Gegenoffensive durch USA: Pattsituation vermeiden und notwendige militärische Ausrüstung bereitstellen

Was würde Russland auch dafür blühen? International geächtet ist das Land ohnehin, das Völkerrecht gebrochen hat es bereits und ebenfalls unverblümt mit einem Atomschlag gedroht. Nix spricht sich aus für Prävention – dadurch, dass die USA und deren europäische Verbündete eine Pattsituation zu vermeiden helfen, indem sie die für wirkungsvolle ukrainische Offensiven notwendige militärische Ausrüstung bereitstellten. Das wären beispielsweise Langstreckenwaffen und Möglichkeiten der Fernaufklärung, um der Ukraine Angriffe auf Standorte der Chemiewaffenproduktion zu ermöglichen.

Die Zeit drängt offenbar, wie die Times verdeutlicht am Beispiel der Stadt Orichiw, die nahe Saporischja liegt. Gegenüber dem Blatt hätten Soldaten der dort kämpfenden 65. Mechanisierten Brigade der Ukraine gesagt, „sie seien ,täglich‘ chemischen Angriffen ausgesetzt“, wie Maxim Tucker schreibt und Oberleutnant Sergej Skibtschyk zitiert:

„Wir sprechen hier nicht von Tränen und Husten, sondern von chemischen Verbrennungen des Kehlkopfs, der Lunge, der Mundhöhle, des Nasenrachenraums und sogar der Haut.“

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