Trotz Warnung: Russland will mit Chemiewaffen den Widerstand der Ukraine brechen

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Schutzlos ausgeliefert: Gerade im Inneren eines Bunkers bleibt den ukrainischen Soldaten gegen Gas keine Chance; Russland setzt jetzt verstärkt auf chemische Kampfstoffe. (Archivfoto) © Michael Brochstein/dpa

Das Gas ist auf das Schlachtfeld zurückgekommen – um zu bleiben. Mehrere Medien werfen Russland vor, Stellungen gezielt mit Tränengas anzugreifen.

Orichiw – Der Erste Weltkrieg war schon mehr als zehn Jahre Geschichte, da hat ihn 1928 der Autor Erich Maria Remarque wieder auf die Agenda gehoben; mit einem Kapitel, dass damit eigentlich auch schon wieder geschlossen sein sollte: „Ein überraschender Gasangriff rafft viele weg. Einen Unterstand voll finden wir mit blauen Köpfen und schwarzen Lippen. In einem Trichter haben sie die Masken zu früh losgemacht; sie wußten nicht, daß sich das Gas auf dem Grunde am längsten hält; als sie andere ohne Masken oben sahen, rissen sie sie auch ab und schluckten noch genug, um sich die Lungen zu verbrennen. Ihr Zustand ist hoffnungslos, sie würgen sich mit Blutstürzen und Erstickungsanfällen zu Tode.“

Chemiewaffen – der Tod aus dem Labor. Mehr als neun Jahrzehnte später soll er sich wieder zurückgemeldet haben: im Ukraine-Krieg. Freigesetzt von den Truppen Wladimir Putins. „Neulich warf der Feind eine Gasgranate in den Unterstand eines Infanteriebataillons. Der Soldat mit dem Spitznamen Yaryi reagierte jedoch sofort und warf die Granate nach draußen“, steht in der Erklärung des Einsatzkommandos Nord der ukrainischen Streitkräfte, über das das Magazin RBC-Ukraine jetzt berichtet. Die russischen Besatzer warfen laut der Erklärung eine Gasgranate aus einer Drohne auf die Stellungen der ukrainischen Verteidigungskräfte. Die Granate war mit Gas gefüllt, das die Atemwege beeinträchtigte.

Damit hätte Russland gegen das Kriegsrecht verstoßen. Seit Juni 1925 gilt das Genfer Protokoll über das „Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder anderen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Kriege“. Das bis heute gültige Protokoll verbietet den Einsatz chemischer sowie biologischer Waffen im Krieg; sie zu entwickeln, herzustellen und zu besitzen, ist jedoch ebenso erlaubt wie sie zu Vergeltungszwecken einzusetzen. Das Genfer Protokoll gehört zu den seit 1864 stetig weiterentwickelten völkerrechtlichen Regelungen zur Kriegsführung. Ein Verbot von „Gift oder vergifteten Waffen“ enthielt bereits die Haager Landkriegsordnung von 1899.

Tödlicher Einsatz: Russland beendete 2002 eine Geiselnahme mit Gas – fast 180 Menschen starben

Dennoch wurden chemische und biologische Massenvernichtungswaffen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in immer größerem Ausmaß entwickelt und verbreitet. Deutschland war im Ersten Weltkrieg das erste Land, das diese Waffe in großem Umfang eingesetzt hat. Das Ende des Ost-West-Konflikts führte schließlich 1993 zu einer endgültigen Chemiewaffenwaffenkonvention, die 1997 in Kraft trat und auch von Russland ratifiziert wurde. Vorher setzten beispielsweise die Vereinigten Staaten im Vietnam-Krieg Chemiewaffen ein, um die undurchdringlichen Wälder zu entlauben; und die russischen Streitkräfte hatten sie zuletzt 2002 eingesetzt zur Beendigung einer Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater gegen rund 50 tschetschenische Rebellen – die versuchte Befreiung scheiterte, und alle Geiselnehmer sowie 129 von 850 Geiseln starben. Auch in Syrien sollen Chemiewaffen eingesetzt worden sein.

RBC hatte bereits Anfang des Jahres berichtet, dass nach Angaben des Institute for the Study of War (ISW) russische Truppen den Einsatz chemischer Waffen in der Ukraine sogar verstärkten. Der Generalstab der Ukraine habe laut ISW zuvor berichtet, dass russische Truppen seit Mitte Dezember eine neue Art von Spezialgranate mit CS-Gas eingesetzt hätten. CS-Gas steht für „2-Chlorbenzylidenmalonsäuredinitril“ und ist ein weißer, kristalliner, giftiger und brennbarer Feststoff mit pfefferähnlichem Geruch; bekannt ist der CS-Kampfstoff als „Tränengas“ . Bei Aufwirbelung von Staub der Verbindung bilden sich explosionsfähige Gemische mit Luft. Obwohl CS-Gas im Freien hauptsächlich zu einer Reizung von Augen und Atemwegen führt und auch wieder abklingt, sollen Studien klar belegen, dass das Gas in geschlossenen Räumen zum Tode führen kann.

„Wir rannten aus dem Graben und das Gas fing plötzlich Feuer. Der Graben stand in Flammen. Dieses Gas brennt, macht blind, man kann nicht atmen, es schießt sofort in die Kehle. Wir hatten nicht einmal eine Sekunde.“

Möglicherweise setzt Russland Gas schon länger ein und versucht inzwischen, Dynamik in den festgefahrenen Stellungskrieg zu bringen – auch das würde dem Ersten Weltkriegs ähneln, als Gas als ultima ratio herhalten musste. Laut Angaben des Royal United Services Institute(RUSI) berichtete Anfang Mai 2023 der staatlich kontrollierte russische Sender Channel 1, dass Russland Aufstandsbekämpfungsmittel als Mittel der Kriegführung einsetze. Das Filmmaterial war Bestandteil eines Berichts, der behauptete, russische Truppen hätten das Dorf Spirne zurückerobert. Der in dem Fernsehbeitrag interviewte und vom Magazin Meduza als Wladislaw Wodolazsky identifizierte Bataillonskommandeur gab an, mit Drohnen K-51-Granaten mit einer offenbar aus Kirschblüten extrahierten giftigen Substanz auf ukrainische Stellungen abgeworfen zu haben. Wodolazsky bezeichnete die Chemikalie als Tränengas und sagte, sie sei eingesetzt worden zum „Ausräuchern“ der Ukrainer, die versucht hätten, Gasmasken zu verwenden, um sich zu schützen; allerdings ohne Erfolg.

Verstärkter Einsatz: In diesem Jahr schon 346 russische Angriffe mit Gas

Verschiedene Quellen belegen anhand von Zahlen, dass der Einsatz von Granaten mit CS-Gas durch Russland inzwischen offenbar zunimmt. Täglich sollen bis zu zehn Granaten irgendwo auftauchen, ukrainische Meldungen sprechen von 626 registrierten Fällen, davon im Januar 2024 allein 51 Fälle, im gesamten ersten Quartal insgesamt 346 Gasangriffe, wie n-tv behauptet. Die Dynamik des Einsatzes nimmt also offenbar tatsächlich zu. Das ukrainische Militär spricht laut RBC von Granaten wie der K-51, die von Drohnen abgeworfen werden – die Größe und Form erinnert an Handgranaten. Allerdings sollen auch improvisierte Sprengkörper, die mit Reizstoffen ausgestattet sind, genauso wie ausgewachsene Artilleriegranaten eingesetzt werden.

In den vergangenen Wochen seien Fälle aufgetaucht in der Region Saporischschja bei Orichiw, bei denen ein ätzendes und entflammbares Gas von Drohnen auf ukrainische Soldaten abgeworfen worden sei, berichtete der US-Fernsehsender CNN: Zwei Soldaten zeigten CNN nach einem vermeintlichen Gasangriff medizinische Berichte, die belegen sollen, dass sie vergiftet worden waren. „Zuerst sah ich Rauch“, sagte einer der Soldaten gegenüber CNN. „Wir rannten aus dem Graben und das Gas fing plötzlich Feuer. Der Graben stand in Flammen. Dieses Gas brennt, macht blind, man kann nicht atmen, es schießt sofort in die Kehle. Wir hatten nicht einmal eine Sekunde.“ Der zweite Soldat fügte hinzu: „Man atmet es zweimal ein, dann bekommt man keine Luft mehr.“

Riskanter Einsatz: US-Präsident Biden hat Putin zu Beginn des Krieges gewarnt – „Nicht. Nicht. Nicht.“

Die Männer sagten nach Angaben von CNN, sie hätten Verletzungen erlitten, darunter Verbrennungen und Striemen im Gesicht sowie in Mund und Rachen. Beide Männer zeigten den Journalisten ihre Rötungen im Gesicht als Spuren ihrer Verletzungen. Das RUSI urteilt, aus technischer Sicht sei der Schutz gegen Tränengas problemlos möglich, und die meisten modernen chemischen, biologischen, radiologischen und nuklearen Gasmasken böten mehr als ausreichenden Schutz vor solchen Stoffen. Allerdings sieht das RUSI den Einsatz von Gas längst als strukturiert an, das belege allein die offensive Demonstration der Nutzung über die eigenen Medien.

US-Präsident Joe Biden hatte Russland bereits kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges auf dem US-Sender CBS vor dem Einsatz chemischer Waffen gewarnt – als Russland erste Rückschläge während der Invasion zu verkraften hatte. Biden sagte: „Nicht. Nicht. Nicht. Sie werden das Gesicht des Krieges anders verändern als alles seit dem Zweiten Weltkrieg.“ Die Produktion und die drohende Nutzung von Chemiewaffen waren 2003 die Begründung der Vereinigten Staaten und Großbritannien für ihren Krieg gegen den Irak und den Sturz des Regimes von Saddam Hussein. Diese Begründung wurde international vielfach angezweifelt; die von den Vereinten Nationen beauftragten Waffeninspektoren, Experten und Politiker widersprachen den Regierungsangaben der Amerikaner vor dem Krieg und bezweifelten die Quellen. Im Irak wurden keine Massenvernichtungsmittel gefunden, weder vor noch nach dem Sturz des irakischen Diktators

In diesem Zusammenhang wurde der damalige Grünen-Außenminister Joseph „Joschka“ Fischer während der Münchner Sicherheitskonferenz weltberühmt, als er, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb, „theatralisch leicht vor Erregung bebend, dem amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld auf Englisch zurief: ,Excuse me, I am not convinced.‘“ (kh)

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