Nato im Alarmzustand: „Russland gewinnt jeden Tag an Kriegserfahrung“

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Monströs und voller Tücken in der Bedienung: Der Kampfpanzer M1 Abrams der Ukraine wird durch die bessere Aufklärung der Russen zu einer höchst gefährdeten Waffe. © Armin Weigel/dpa

Ein Wunderpanzer von einer Pfütze besiegt, Artilleriestellungen durch geklaute Smartphones ausbaldowert – Russland lernt gerade, die Nato zu knacken.

Kiew – „Kein Plan überlebt den ersten Feindkontakt“, hat der preußische Generalmajor Carl von Clausewitz geschrieben und würde sich im Ukraine-Krieg bestätigt fühlen. „Es scheint, dass die Russen lernen“, beobachtet Frederik Mertens, Analyst am Hague Center for Strategic Studies, wie ihn jetzt Newsweek zitiert. Das ist eine schlechte Nachricht für die Verteidiger, denn die Truppen von Wladimir Putin haben offenbar ihr Auge auf die Schmuckstücke der Ukraine geworfen und nehmen die gezielt unter Feuer, wie Newsweek weiter schreibt. Russland hat nach eigenen Angaben innerhalb der vergangenen zwei Wochen eine Handvoll von der Ukraine betriebener Abrams-Panzer und Bradley- Infanterie-Kampffahrzeuge sowie von den USA geliefertes HIMARS (High Mobility Artillery Rocket Systems) zerstört.

Russland habe auf dem Schlachtfeld neue Strategien entwickelt, die sich als wirksam erwiesen haben, ergänzt laut Newsweek Ivan Stupak, ein ehemaliger Offizier des ukrainischen Sicherheitsdienstes, der den Ausschuss für nationale Sicherheit, Verteidigung und Geheimdienste des ukrainischen Parlaments berät. Damit ist eingetreten, was der ukrainische Oberbefehlshaber General Walerij Saluschny bereits im vergangenen Herbst prophezeit hatte: Die ukrainischen Verteidiger bräuchten zwar dringend Hochtechnologie, aber je länger der Stellungskrieg dauere, desto besser könnten sich die Russen darauf einstellen – also im Krieg vom Krieg lernen. Das wiederum würde dann wieder den technologischen Fortschritt egalisieren.

Challenger- und Abrams-Panzer ganz oben auf Putins Abschuss-Liste

Laut Newsweek sollen vor allem Abrams- und Challenger-Panzer die ersten Opfer von Russlands neuer Wissbegier geworden sein – immerhin hat die Ukraine bereits die Hälfte ihrer 14 Examplare starken Flotte eingebüßt; nur zum Teil durch Feindeinwirkung. Moderne Ausrüstung wie der Abrams-Panzer seien im Gefecht seit vergleichsweise kurzer Zeit im Einsatz, weil die Ukraine sie zurückgehalten habe, sagt Marina Miron vom War Studies Department am King‘s College London. Da die Möglichkeiten der Ukraine, ihre Schlüsselausrüstung zu tarnen, eingeschränkt seien und schwere westliche Panzer für schlammiges Gelände in der Ukraine kaum geeignet seien, habe Moskau mehr Erfolg bei der Zerstörung von Kiews Ausrüstung, sagte sie. Zuletzt hatte die Sun darüber berichtet, wie ein britischer Challenger aufgrund seines Gewichts im Dreck versunken sei – und die Welt via Youtube zugeschaut hätte.

Und da der Bewegungskrieg seit langem eingefroren ist, werden die Panzer aus getarnten Stellungen heraus teilweise als Haubitzen eingesetzt; durchaus immer mit vollem Risiko in der Stellung aufgebracht zu werden. Oder wie in der Bundeswehr gelehrt wird. Kein Feuer ohne Bewegung und keine Bewegung ohne Feuer. Stillstand ist für den Westpanzer untypisch und letztendlich tödlich.

Für den ehemaligen Bundeswehr-Oberst Wolfgang Schneider können alte Sowjetpanzer unter den geografischen Gegebenheiten in der Ukraine deshalb mit den Westpanzern auf Augenhöhe operieren – sie seien zwar technisch veraltet, aber aufgrund fehlenden Gewichts unter den geographischen Gegebenheiten agiler und damit letztendlich gefährlicher. Vor allem an den Brennpunkten der Front im Süden und Südosten mit durchschnittenem Gelände und vielen Ortschaften, Flüssen und Industrieflächen sind die Vorzüge der westlichen Technik seiner Meinung nach auch von der besten Besatzung somit kaum zur Geltung zu bringen. Mit ihren uralten T-55S aus Slowenien ist die Ukraine also insofern ebenso gut bedient.

„Das Schlachtfeld ist das Überleben des Stärksten in seiner gnadenlosesten Form“

„Das Schlachtfeld ist das Überleben des Stärksten in seiner reinsten und gnadenlosesten Form“, analysiert Frederik Mertens aus den Niederlanden. Militärs sprechen inzwischen vom Gläsernen Gefechtsfeld – also von einem Gefechtsfeld, in dem Meldungen in Sekundenbruchteilen zwischen Sender und Empfänger ein Lagebild vervollständigen. Bislang galten Wladimir Putins Truppen in der Ukraine als wenig flexibel und schlecht geführt, weil ihnen die digitale Kommunikation gefehlt hatte. Neuere Studien zeichnen jedoch ein anderes Bild. Demnach hat die russische Armee dazugelernt. Den ukrainischen Streitkräften sei anfangs „in einer noch nie dagewesenen Weise“ gelungen, Daten aus zivilen und militärischen Quellen zu aktuellen Lagebildern zu verdichten, um sie anschließend gegen die Invasoren aus Russland einzusetzen, sagt Oberst Tim Zahn im Bundeswehr-Podcast Nachgefragt.

„Aufgrund der Datenmenge konnten erhebliche Zeitgewinne, die im militärischen Kontext immer eine wichtige Rolle spielen, erzielt werden“, so der Leiter des Zentrums für Cyber-Sicherheit der Bundeswehr. Deshalb gerieten anfangs ganze Konvois ins Stocken; deshalb schoss die russische Artillerie so wenig präzise. Deshalb hatte die Ukraine in der Gegenoffensive Oberwasser bekommen. Das aktuelle Problem: All das haben sich die Russen jetzt von ihren Gegnern abgeschaut. Das heißt im Endeffekt: Russische Artillerie schießt nicht nur schneller, sondern inzwischen auch auf den Punkt.

Gläsern sei ein Gefechtsfeld heutzutage zu jeder Tages- oder Nachzeit und unter allen Witterungsbedingungen, sagt Oberstleutnant Martin Winkler, Leiter des Sachgebietes „Auswertung“ im Kommando Heer im Bundeswehr-Podcast. Auch sei der Soldat ständig unter Beobachtung sowie prinzipiell auch jeder Funkspruch oder jede Wärmeabstrahlung eines Fahrzeugs. Der Nachrichtenoffizier sieht darin eine echte Bedrohung für die Bundeswehr und die Nato: „Die Russen gewinnen jeden Tag, an dem sie diesen Krieg führen uns gegenüber einen Vorsprung an tatsächlicher Kriegserfahrung.“ Dem stimmt die Wissenschaftlerin Miron zu, wie sie Newsweek gegenüber bestätigt hat.

„Krieg bedeutet einen permanenten Wechsel von Lernen und Anpassung, von Innovation und Adaption; und das mit einer sehr hohen Geschwindigkeit. Im nächsten Krieg wird dieser Kreislauf noch schneller verlaufen als in diesem.“

Russland habe seine Geheimdienst-, Überwachungs- und Aufklärungsfähigkeiten durch den Einsatz elektronischer Kriegsführungssysteme mit Drohnen verbessert, und Moskau habe auch die Präzision seiner Raketen gesteigert. Beispielsweise haben die Russen inzwischen massenhaft Daten aus den Smartphones gefangener ukrainischer Gegner auslesen und zu Lagebildern der Stellung sogar einzelner Geschütze verdichten können. Auch die intelligenten Excalibur-Geschosse westlicher Haubitzen sind dadurch anfällig für Störsender geworden und letztendlich in ihrer Wirksamkeit beschnitten.

Für die Bundeswehr bedeutet das einen erneuten klaren Paradigmenwechsel, wie Oberstleutnant Winkler erläutert. Wenn Russland wie jetzt in der Ukraine die Mittel habe, am Himmel mittels Drohnen die Aufklärungs-Hoheit zu erringen, dann müsse sich die Bundeswehr wieder zu einer ursprünglichen Verteidigungs-Armee wie im Kalten Krieg zurückverwandeln. Tarnen und Täuschen würden wieder zu den Generaltugenden zu zählen sein. In den vergangenen Bundeswehr-Einsätzen in Afghanistan oder Mali war die Bundeswehr im Gegenteil darum bemüht, wie er sagt, „offen Präsenz zu zeigen und zu stabilisieren“.

Ihm zufolge drängt der Krieg in der Ukraine deshalb vor allem eine Lehre auf: „Krieg bedeutet einen permanenten Wechsel von Lernen und Anpassung, von Innovation und Adaption; und das mit einer sehr hohen Geschwindigkeit. Im nächsten Krieg wird dieser Kreislauf noch schneller verlaufen als in diesem.“ Der Faktor Mensch bliebe aber der entscheidende Unterschied, sowohl auf der Kommando-Ebene mit den Erfordernissen an die Führung, als auch im Trupp mit den Anforderungen an Moral und Kameradschaft – eine Erkenntnis, die sich Putins Truppen offenbar mit viel Blut erkaufen, wie die Neue Zürcher Zeitung meint und damit auf das Gemetzel rund um Awdijiwka abzielt.

Russen haben auf dem Gebiet des elektronischen Kampfes inzwischen viel gelernt

„Die Russen dürften erkannt haben, dass ihre Fähigkeiten, im großen Umfang Offensivoperationen durchzuführen, begrenzt sind. Und sie haben Probleme mit der Professionalität ihrer Soldaten. Das zeigen die enormen Verluste“, sagt gegenüber der NZZ Generalleutnant Andreas Marlow, Kommandeur der EU-Ausbildungs- und -Trainingsmission für die Ukraine. Er sieht aber, dass sie sich von der Ukraine viel von deren technischer Innovationskraft zu eigen gemacht haben: „Wir wissen, dass die Russen im Bereich des elektronischen Kampfes und des Kampfes mit Artillerie, des Einsatzes von Drohnen und ,loitering munition“ (einer Waffe, die in der Luft herumlungert, bis der Einsatzbefehl gefunkt wird) stark geworden sind. Sie haben viel gelernt im Kampf mit Sperren, wie der riesige Minengürtel zeigt, den sie tief und quer durch die Ukraine gelegt haben und der den Ukrainern bei ihrer Gegenoffensive wahnsinnig zu schaffen machte.“

Den hohen Blutzoll beobachtet der deutsche General auch und vor allem bei der russischen Panzerwaffe, die im Endeffekt dazu führen könnten, dass die russische Entwicklung nach einem Kriegsende einen enormen Schub nehmen könnte; was wiederum die Nato unter Zugzwang setzen könnte und ein stählernes Monstrum wie den britischen Challenger oder den amerikanischen Abrams auch – schon heute absehbar – schneller als gedacht zum Alteisen degradieren könnte, wie Marlow gegenüber der NZZ gemutmaßt hat. Dringend geboten sei eine Analyse, wodurch Panzer überhaupt ausfallen.

„Ist es durch das direkte Panzerduell, ist es durch Artillerie, Drohnen, Panzerabwehr-Lenkraketen, ,loitering munition‘, Hinterhalte durch Panzervernichtungstrupps oder durch Minen? Daraus ergibt sich die Frage, welche Schutztechnologien entwickelt werden müssen, um diesen Bedrohungen zu begegnen. Wir beobachten, dass die Russen lernen und ihre Schutztechnologien und ihre Taktik anpassen. Die Masse der Panzer jedenfalls fällt nicht durch direkten Beschuss aus, sondern durch Drohnen, loitering munition‘ und Minen.“

Nachrichtenmann Winkler sieht sich in der Aufarbeitung des Ukraine-Krieges riesigen Datenmengen und Jahren der Analyse gegenüber; und befürchtet die Notwendigkeit eines Quantensprungs in der deutschen Denkweise. „Wir brauchen ein Mindset als Innovatoren. Für die Landstreitkräfte ist die die zentrale Lehre aus der Ukraine: Auch der nächste Krieg wird an Land gefochten.“ Für eine technische Meisterleistung des Westens wie den Challenger eine echte Herausforderung und eine existentielle Frage der Zukunftsfähigkeit: ihn hat eine simple Pfütze besiegt.

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