„Drohnen an der Leine“: Ukraine schickt jetzt Ballons mit Granaten nach Russland
Eine Waffe von vorgestern im Kampf gegen Russland verstärken: der Ballon. Erfolgreich in der Defensive setzt die Ukraine ihn nun zum Angriff ein.
Novaya Slobodka – „Langstreckenbomberballons“ – der Ukraine-Krieg hat ein neues Wort geboren und David Hambling offenbar eine neue Taktik gegen die Truppen von Russlands Präsidenten Wladimir Putin ausgemacht: eine Langstreckendrohne in Form eines Ballons.
Der Autor des Nachrichtenmagazins Forbes bezieht sich auf aktuelle Meldungen, die seit Anfang 2023 kursieren. Die britische BBC hatte damals von russischen Ballons über Kiew berichtet, die Radarstrahlen reflektieren und die Luftverteidigung damit irritieren. Laut Forbes-Informationen soll die Ukraine Ballons inzwischen strukturiert einsetzen; zur Verteidigung als auch zum Angriff auf Distanz und gegen das Territorium Russlands selbst.
Forbes bezieht sich auf eine Veröffentlichung der russischen Online-Magazins Mash, das wiederum berichtet, die ukrainischen Streitkräfte hätten „erstmals eine Reihe von Wetterballons mit Sprengstoff“ tief nach Russland einschweben lassen. Laut Angaben des Magazins sei ein Ballon mit einem Kilogramm Sprengstoff abgestürzt in einem Wald nahe des Dorfes Novaya Slobodka im Verwaltungsbezirk Belgorod. In der Region Kursk soll „mindestens ein weiteres Gerät zerstört“ worden sein, so Mash. Auf X (vormals Twitter) kursieren Bilder von einem Konstrukt, das stark an eine Do-It-Yourself-Lösung erinnert und ziemlich primitiv wirkt – die Teile hängen an einer langen Schnur unter einer schwarzen Hülle in einem Baum.
Die neue Waffe der Ukraine: Ballons aus Kunststoff, der bei „Müllbeutel verwendet wird“
Hambling berichtet von Steve Randall, einem Unternehmer für Industrie-Ballons, der „vermutet, dass es sich bei dem schwarzen Material möglicherweise um die Art von Kunststoff handeln könnte, die als Müllbeutel verwendet wird“, wie Forbes schreibt. Die Ladung aber ist ziemlich bemerkenswert: Der Ballon soll eine 82-mm-Mörsergranate getragen haben. Andere Ballons sollen alternativ mit Reflektoren ausgestattet sein. Forbes behauptet, diese Improvisationen seien alles andere als eine Spinnerei: „Diese einfachen, kostengünstigen Geräte werden durch hoch entwickelte Standardelektronik mit Satellitenkommunikation gesteuert. Jüngste Fortschritte in der Software und ein besseres Verständnis der Windmuster ermöglichen es, solche Ballons über große Entfernungen mit beträchtlicher Genauigkeit zu steuern“, schreibt Hambling.
„Der japanische Ballonangriff mag an sich relativ unbedeutend gewesen sein, doch er läutete eine neue Art der Kriegsführung ein, die unsere Welt bis heute prägt.“
Er sieht darin sogar eine kommende asymmetrische Waffe und verweist darauf, dass auch Russland Anfang 2023 Ballons eingesetzt haben soll, um die ukrainische Luftabwehr auszulaugen. Dafür wurden reflektierende Körper unter die Ballons gehängt, um mittels eines Radar-Impulses der Luftabwehr teure Raketen in Marsch zu setzen; eine ähnliche Wirkung hätten Ballons, die, so schreibt die BBC, „bemalt“ würden und in ihren Konturen dann bemannten Luftfahrzeugen ähnelten und ebenfalls Luftalarm auslösten. Mit den Mörsergranaten schaltet die Ukraine jetzt nach den Drohnen offenbar auch mit Ballons in den Angriffs-Modus.
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Gezündet beziehungsweise abgeworfen würde die Sprengladung mittels einer Drahtschlaufe; in der verläuft die Halteschnur der Granate. Gesteuert via Bluetooth soll Strom durch die Drahtschleife geleitet und der Draht dadurch erhitzt werden – bis die Halteschnur der Granate geschmolzen oder durchtrennt sei. Forbes bezieht sich auf eine Beschreibung der Bauteile auf der X-Seite des Analysten DanielR. Mittels eines Trackers beziehungsweise der GPS-Daten könnte die improvisierte Abwurf-Vorrichtung über einem vorher definierten Zielgebiet ausgelöst werden.
Laut Forbes-Recherchen, lägen die Kosten für die Elektronik-Bauteile bei rund 130 Euro und für das gesamte Konstrukt bei unter 1.000. Allerdings scheinen die Ballons noch echte Randerscheinungen des Ukraine-Krieges zu sein – jedenfalls in der offensiven Variante. In der Defensive scheinen sie sich schon zu lohnen, wenn sie eine teure Luftabwehr-Rakete ins Nichts schicken können. Die Ballons folgen mehreren Bauart-Prinzipien, entweder mit null Druck oder mit Überdruck, sie können mit Wasserstoff oder Helium gefüllt werden; auch die Außenhaut kann die thermischen Eigenschaften beeinflussen. Laut Forbes hatte der in Russland abgestürzte Ballon offenbar eine Hülle, „die Sonnenenergie absorbiert, um sich aufzuwärmen und Auftrieb zu erlangen“.
Do-It-Yourself-Waffe gegen Russland: mit einer durchlöcherten Flasche als Ballast
Am wenigsten ausgeklügelt scheint die Navigation. Grundsätzlich ist am ehesten die Flughöhe zu bestimmen – das Wrack aus der Nähe von Belgorod hatte im Schweif des Ballons eine kleine Flasche. Jetzt wird angenommen, die Flasche hatte ein kleines Loch, und die langsam heraus sickernde Flüssigkeit war der Ballast, der den Ballon auf eine bestimmte Höhe bringen sollte. Dort würden dann die erwarteten Winde den Ballon in die anvisierte Richtung dirigieren. Eine japanische Ballonbombe soll im Zweiten Weltkrieg so immerhin fast 10.000 Kilometer zurückgelegt haben, berichtet Buch-Autor Allan Duffin.
Duffin zufolge sollen die Japaner von November 1944 an für sechs Monate mit nahezu 10.000 Ballonbomben die USA terrorisiert haben. Sie landeten in der Regel zufällig im Nirgendwo – nur von einer einzigen ist bekannt, dass sie eine Tragödie verursacht hat: Eine Pfarrersfrau samt fünf Kindern ist dem Sprengsatz zum Opfer gefallen, in Bly, Oregon, wie dasTime-Magazine berichtet. Die tödliche Fracht hatte der Jetstream in die USA getragen, gestartet war sie laut Time wahrscheinlich von der japanischen Insel Honshū. Laut den Recherchen des US-Historikers Ross Coen von der University of Washington sind von diesen Fu-go-Bomben bis zu zehn Prozent der insgesamt gestarteten Ballons tatsächlich an das nordamerikanische Festland gelangt, also rund 1.000 Stück.
Ukraine mit Zweiter-Weltkriegs-Taktik: Ballonbomben über eine lange Distanz
Die Pfarrersfrau und die Kinder blieben die einzigen Todesopfer dieser Waffengattung. Die Technik ist an sich ein alter Hut. Mitte des 19. Jahrhunderts sollen Österreicher auch schon Ballons mit Sprengstoff gegen das revoltierende Venedig eingesetzt haben. Allerdings war der Erfolg immer mit der Notwendigkeit günstiger Winde verwoben gewesen; drehende Winde waren dagegen verheerend. Erst vor etwas über einem Jahr sorgte China mit dem Einsatz eines Ballons für weltweite Verstörung. Ein vermeintlicher Wetterballon war über den USA aufgetaucht und hätte ein möglicher Spion sein können. Die taz zitierte aber einen Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, der das für unwahrscheinlich hielt, weil die dadurch gewonnen Informationen auch auf anderen Wegen hätten ausspioniert werden können – beispielsweise durch Satelliten.
Allerdings überfliegen Ballons ungeniert und unauffällig auch sensible Regionen; das Magazin Popular Mechanics berichtete Anfang 2023 vom „Aufstieg von Spionageballons“, weil die USA deren Informationen nach selbst Spionageballons entwickeln. „Ballons vereinen Fernfähigkeit mit Stealth-Fähigkeiten, um Missionen durchzuführen, die für andere Flugzeuge unmöglich wären“, schreibt Popular Mechanics-Autor David Hambling. Ihm zufolge sollen die Ballons künftig präziser gesteuert werden können – mittels Algorithmen, die den Wind genauer vorhersagen sowie Künstlicher Intelligenz, um Wetterberichte und Flugdaten einzuspeisen in die Berechnung der passenden Flughöhe; daneben werde an lasergesteuerter und daher möglichst exakter Berechnung des Windes getüftelt.
Historiker Coen sieht in den japanischen Kamikaze-Ballons „per Definitionem Interkontinentalraketen“; „der japanische Ballonangriff mag an sich relativ unbedeutend gewesen sein, doch er läutete eine neue Art der Kriegsführung ein, die unsere Welt bis heute prägt“, schreibt er. Das sah auch der Spiegel vor fast zehn Jahren so – für seine Autorin Solveig Grothe waren sie „Drohnen an der Leine“.