Zukunft der Ukraine: Selenskyjs Angst vor einem Präsidenten Trump
Gewinnt Trump die US-Wahl, könnte er Militärhilfen streichen und Selenskyj zu Verhandlungen mit Putin zwingen. Harris bietet kaum bessere Aussichten.
New York City – Es war eine bemerkenswert angespannte Situation. Ende September standen Wolodymyr Selenskyj und Donald Trump Seite an Seite im Trump Tower in New York und blickten stocksteif in die Kameras. Der Ex-US-Präsident prahlte damit, dass er ein „sehr gutes Verhältnis zu Putin“ habe – woraufhin ihm Selenskyj ins Wort fiel. „Ich hoffe, es gibt noch bessere Beziehungen zu uns“, sagte er. Trump lachte kurz auf und entgegnete: „Sie wissen ja, zum Tango gehören immer zwei.“
Für den ukrainischen Präsidenten war das kein guter Trip. Seine Reise sollte ihn auf das vorbereiten, was nach der US-Wahl in zwei Wochen auf ihn zukommen könnte: Nur wenige Länder haben dabei so viel zu verlieren wie die Ukraine. Selenskyj wollte sich bei seinen Gesprächen in den USA sowohl für eine Kamala Harris als auch einen Donald Trump im Weißen Haus wappnen – und nebenbei noch die Erlaubnis von Präsident Joe Biden einholen, mit weitreichenden Raketen auf russisches Gebiet zu zielen. Er konnte ihn nicht überzeugen.

Selenskyj mit großen Forderungen: Absicherung gegen mögliche Trump-Präsidentschaft
Der Ukraine rennt die Zeit davon. Je näher die US-Wahl rückt, desto nervöser wird Kiew. Vergangene Woche hat Selenskyj seinen groß angekündigten „Siegesplan“ vorgestellt, in dem er eine sofortige Einladung in die Nato und den Einsatz von Langstreckenwaffen fordert. Es ist der Versuch, so viele Zusagen wie möglich einzutüten, bevor womöglich Donald Trump wieder ins Weiße Haus zieht und entscheiden könnte, Militärhilfen an die Ukraine drastisch zu kürzen – und das Land somit an Putin ausliefert.
Ausgeschlossen ist das nicht. Erst vor ein paar Tagen hat Trump gesagt, Selenskyj hätte den Krieg nie zulassen dürfen – und kritisierte milliardenschweren Hilfen, die Washington bisher an die Ukraine geleistet hat. Er selbst ist überzeugt, den Krieg unmittelbar nach Amtsantritt beenden zu können. Sogar in nur 24 Stunden, wie er immer wieder behauptet.
„Gut möglich, dass Trump über Selenskyjs Kopf hinweg einen Deal mit Putin vereinbart“, sagt Julian Müller-Kaler vom Stimson Center in Washington. Der Think Tank berät westliche Regierungen in Konflikt- und Friedensfragen. „Ich glaube aber nicht, dass Trump Putin einfach einen politischen Blankoscheck überreichen würde. Er würde vielleicht eher seine eigenen Bedingungen stellen und damit drohen, die Ukraine noch stärker als zuvor zu unterstützen, sollte Putin nicht darauf eingehen.“
Meine news
Der Deal könnte beispielsweise ein Waffenstillstand sein, bei dem russische Truppen nicht mehr weiter vorrücken und die Ukraine ihre besetzten Gebiete an Russland abtritt – zwar nicht offiziell, aber de facto. „Da stellt sich aber zwangsläufig die Frage, wie lange so ein Waffenstillstand halten kann – und wie sichergestellt wird, dass beide Seiten nicht einfach die Zeit nutzen, um sich militärisch wieder besser aufzustellen“, so Müller-Kaler.
Kehrtwende gegenüber Biden: Trump fährt in Ukraine-Politik völlig anderen Kurs
Das wäre eine drastische Abkehr vom Kurs der Biden-Administration: Denn bisher sollte allein die Ukraine darüber entscheiden, unter welchen Bedingungen sie bereit wäre, Frieden zu schließen. Der Kreml hingegen hat bereits in den ersten Monaten des Kriegs bei Gesprächen in der Türkei seine Bedingungen für Frieden klargemacht:
Ein russischer Vertragsentwurf erklärte damals, die Ukraine zu einem neutralen, atomwaffenfreien Staat zu machen, der weder der Nato beitritt noch ausländische Militärbasen auf seinem Boden zulässt. Im Gegenzug wären die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats dazu verpflichtet, der Ukraine im Falle eines Angriffs zu helfen – ähnlich wie es der Artikel 5 der Nato festlegt.
Trumps Vorstellungen klingen sehr ähnlich. Sein Vize J.D. Vance hat erst kürzlich in einem Interview angedeutet, dass Trumps Friedensplan für die Ukraine vorsehen würde, dass Russland die besetzten ukrainischen Gebiete behält, eine entmilitarisierte Zone eingerichtet wird und sich Kiew zur Neutralität verpflichtet.
Putin macht im Ukraine-Krieg Gewinne: Trumps Verhandlungen überhaupt gewollt?
Dabei ist völlig unklar, ob Russland aktuell überhaupt Interesse an solchen Verhandlungen hätte. „Putins Armee rückt gerade im Osten der Ukraine immer weiter vor, mit erheblichen Geländegewinnen“, sagt Müller-Kaler. „Und je mehr Gebiete Putin erobert hat, desto besser ist seine Verhandlungsposition.“ Für den Kreml lohne es sich noch abzuwarten.
Auch Jörn Fleck vom Think Tank Atlantic Council in Washington denkt, dass sich Trump gleich zu Beginn seiner Amtszeit mit Putin an einen Tisch setzen würde. „Ich glaube, dass wir uns dann sehr schnell in einem Verhandlungs-Endgame befinden könnten“, sagt er. „Darauf muss sich Europa vorbereiten.“ Ob sich Putin deshalb auch einen Wahlsieg Trumps wünscht, sei gar nicht so klar, meint der Sicherheitsexperte.
„Wir reden von einem so unberechenbaren Akteur – ich bin nicht sicher, ob sich Moskau und Peking wirklich Trump im Weißen Haus wünschen. Und man darf nicht vergessen, dass die Trump-Administration die einzige war, die damals eine Reihe von russischen Wagner-Söldnern bei Luftanschlägen in Syrien töten ließ. Das war nicht Obama, das war nicht Biden, das war Trump.“
Die Alternative: Abnutzungskrieg zwischen Ukraine und Russland unter Harris?
Ob Kamala Harris dem Kreml da vielleicht sogar nützlicher wäre? Die Demokratin hat Selenskyj bei seinem Besuch in Washington versprochen, sein Land im Falle ihres Wahlsieges weiter zu unterstützen. Sie kritisierte auch Trumps Forderungen, die Ukraine solle sich zügig auf ein Abkommen mit Putin einlassen – er vertrete die gleichen Bedingungen wie Putin, sagte sie. „Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass das keine Vorschläge für den Frieden sind.“
Julian Müller-Kaler vermutet, dass es bei einem Wahlsieg Harris’ mit der Zeit zu einem weiteren Abnutzungskrieg kommen würde: Also territorial begrenzte Kämpfe, bei denen sich beide Seiten die meiste Zeit verschanzen. „Dabei sind signifikante Geländegewinne extrem schwierig und nur mit enormen Verlusten möglich“, erklärt Müller-Kaler.
Ein echter Abnutzungskrieg würde Eskalationen unwahrscheinlicher machen, hätte aber auch die Folge eines schier endlosen Konflikts, in dem wohl auch die Unterstützung der europäischen Partner mit der Zeit bröckelt. Schon jetzt meint ein Großteil der Wähler in Ländern wie Griechenland, Ungarn und Italien, es sei Zeit für ein Abkommen mit Moskau.
Trumps Frieden geht auf Kosten der Ukraine – aber „erstaunliche Parallelen“ zwischen Trump und Harris
„Trump bedeutet eine höhere Wahrscheinlichkeit für eine Beendigung des Krieges“, sagt Julian Müller-Kaler. „Was man als positiv auslegen kann, wenn man lediglich an einem Ende des Konflikts interessiert ist.“ Aber es wäre wohl ein Frieden, der auf Kosten der Ukrainer geht – einer, den Putin als Sieg verbuchen kann.
Viele Experten teilen allerdings inzwischen die Ansicht, dass sich Europa ohnehin immer weniger auf die USA als Schutzmacht verlassen könnte – egal, ob unter Kamala Harris oder Donald Trump. Beide würden von Europa erwarten, sich mehr um seine eigene Sicherheit zu kümmern, heißt es etwa in einer Analyse vom Stimson Center. Auch von Kamala Harris sei nicht die gleiche transatlantische Leidenschaft wie von der Biden-Administration zu erwarten.
Stattdessen werde China und der pazifische Raum immer wichtiger für Washington. Gerade in der Außen-, Handels- und Wirtschaftspolitik gebe es bei Harris und Trump inzwischen „erstaunliche Parallelen“, sagt Müller-Kaler. Europa werde sich „noch umschauen“ – unabhängig davon, wer ab Januar im Weißen Haus sitzt.