„Ein paar Überraschungen“: Ukraine-Partisanen zermürben die Psyche von Putins Truppen

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Einer der größten Atesh-Erfolge: die Koordination des Angriffs der Ukraine auf den Hafen von Sewastopol im September vergangenen Jahres. Das Ziel der Partisanen ist, die russischen Besatzer in ständiger Unsicherheit zu halten und Raketenschläge zu koordinieren (Archivfoto). © IMAGO/Viktoria Sukonnikova

Das nächste Ziel steht fest: Partisanen wollen ein russisches Depot ausbaldowert haben. Gerüchten zufolge hatten die USA die Guerilla mit aufgebaut.

Stawropol – „Mit unorthodoxen und einfallsreichen Taktiken erzielen die irregulären Krieger der Ukraine erstaunliche Erfolge“, urteilen Philip Wasielewski und William Courtney: Je stärker die Verteidiger gegen die Aggression Wladimir Putins in die Defensive gedrängt würden, desto mehr Bedeutung gewinne die irreguläre Kriegführung hinter den feindlichen Linien, schreiben sie im Magazin Defense News. Jetzt haben Partisanen den regulären Einheiten den nächsten unschätzbaren Dienst erwiesen – in der Region Rostow sollen sie den Standort eines Automobilbataillons ausgekundschaftet haben. Diese Einheiten transportieren Material und Truppen nichtmotorisierter Verbände. Damit liegt jetzt ein bedeutender russischer Logistik-Hub im Fadenkreuz der Ukraine.

Agenten von Atesh (Auf Krimtatarisch für „Feuer“) wurden zuerst aufmerksam auf den Fluss von Militärtransporten, der sie schließlich zu einem Lager an der Rostow-Ausgangsstraße in Nowotscherkassk geführt haben soll, wie sie selbst auf ihrem Telegram-Kanal berichten. „Hier ist einfach unglaublich viel militärisches Gerät stationiert.“ Auf den Bildern im Telegram-Post sind unscheinbare Zäune zu sehen. Eine Satelliten- oder Drohnen-Aufnahme zeigt große Gebäude, vermutlich Lagerhallen. Die Atesh-Guerillas liefern auch die Koordinaten mit.

Sturmlauf der Krimtataren: Mit der Ukraine gemeinsam gegen Putin

Jade McGlynn verweist auf den entscheidenden Beitrag der Guerillas zu den militärischen Bemühungen der Ukraine: Die Analystin des Thinktanks Center for Strategic & International Studies (CSSI) betont deren wesentliche Rolle bei der Sammlung und Übermittlung von Informationen, der Unterstützung militärischer Operationen, der Sabotage feindlicher Logistik- und Kommandostrukturen sowie für die Vorbereitung ukrainischer Militärinitiativen.

„Durch ihre Aktionen stärken unsere Agenten die Moral der lokalen Bevölkerung und zeigen, dass Widerstand möglich ist und dass es Menschen gibt, die aktiv gegen die Eindringlinge kämpfen.“

Der Sturmlauf beispielsweise der Krimtataren gegen die russischen Besatzer hat auch historische Hintergründe. Im 18. Jahrhundert war die Halbinsel noch in krimtatarisch-osmanischer Hand. Heute machen Krimtataren nur noch etwa 13 Prozent der dortigen Bevölkerung aus, wie das ZDF schreibt. Nach der Annexion der Krim 2014 durch Russland verließen besonders viele von ihnen die Halbinsel in Richtung ukrainisches Festland; auch das Verhältnis zu den Ukrainern soll angespannt sein, der gemeinsame Feind aber schweißt beide zusammen – und auf der Krim ziehen beide Parteien an einem Strang in der Überzeugung, verliere Putin die Krim, habe er den gesamten Krieg verloren.

Wie die Kyiv Post berichtet, hätte die Partisanen jetzt detaillierte Informationen darüber gesammelt, wo Offiziere beziehungsweise Mannschaften stationiert sind und wo sich Depots, Proviant oder Treibstoff und Schmiermittel befinden. „Wir haben ein paar Überraschungen in dem Bereich hinterlassen, in dem die Ausrüstung aufgetankt wird! Bevor die ‚Geschenke‘ aus der Luft heranfliegen, empfehlen wir ihnen, auf ihre Schritte zu achten“, sollen sie öffentlich erklärt haben.

Partisanenangriffe: Mäßige Erfolge an der Front werden in Russlands Rücken kompensiert

Für die Autoren Wasielewski und Courtney ein möglicher Anknüpfungspunkt für künftige verdeckte westliche Unterstützung – die beiden Analysten haken ein in den bekannten Schwächen der Russen in der Logistik, der Führung und – letztendlich – der Moral des einzelnen russischen Soldaten. „Die ukrainischen Streitkräfte könnten diese Schwächen durch eine verbesserte Integration von Geheimdienst-, Überwachungs- und Aufklärungsmitteln noch weiter ausnutzen. Der Westen könnte helfen, indem er ukrainische Operationen hinter den russischen Linien stärker unterstützt und Angriffe über größere Entfernungen ermöglicht“, wie sie in Defense News anregen.

Tatsächlich sprechen auch aktuelle Frontberichte von lediglich mittelmäßigen Erfolgen in Gefechten der ukrainischen mit russischen Soldaten, aber von bemerkenswerten Wirkungstreffern hinter den Linien. Der britische Guardian stützt sich beispielsweise auf eine Meldung der französischen Nachrichtenagentur Agence France Press, wonach die Ukraine aktuell mittels Luft- und Seedrohnen „unter anderem ein Kommandozentrum und ein Munitionsdepot am Donuslaw-See im Westen der Krim beschädigt oder außer Gefecht gesetzt“ habe – allerdings unter Verweis auf die fehlende Bestätigung.

Aufbau der Schattenarmee: USA sollen über Jahre hinweg mitgemischt haben

Angesichts des Patts auf dem Schlachtfeld und der Zweifel über die langfristigen Aussichten auf westliche Militärhilfe würde die Ukraine Sabotage zunehmend als eine entscheidende Taktik gegen Russland pflegen, hatte der US-Sender NBC Ende vergangenen Jahres prophezeit. „Der Schattenkrieg der Ukraine hinter den russischen Frontlinien ist zum Teil ein Erbe der Ausbildung und Unterstützung der USA und Großbritanniens im letzten Jahrzehnt“, schreibt NBC-Autor Dan De Luce.

Laut Aussagen anonymer ehemaliger US-Offizieller hätte Washington bei „Ausbildung und Ausgestaltung“ des militärischen Geheimdienstes der Ukraine, des GUR, seit der Annexion der Krim in 2014 mitgewirkt. Solange die Ukraine außerstande sei, in der direkten Konfrontation mit russischen Truppen zu bestehen, müsse sie sich darauf konzentrieren, überall und jederzeit Angst zu verbreiten, meint De Luce. Neben den physischen Angriffen auf militärische Anlagen oder durch gezielte Attentate auf höhere Militärs beziehungsweise einfache Truppen eben auch durch Psychoterror gegen die Besatzer.

Atesh ist attraktiv: Bewegung wuchs von einem Dutzend auf 2.000 Agenten

Melitopol ist offensichtlich zum Hotspot von ukrainischen Guerilla-Aktivitäten geworden, wie McGlyynn schreibt: Die Partisanen-Gruppe Srok (übersetzt in etwa: „Tod den russischen Besatzern und Kollaborateuren“) soll in der Stadt wiederholt Häuser und Wohnungen von Angehörigen des russischen Militärs und der russischen Polizei markiert haben: Die Tags lauteten schlicht auf „200“ als Abkürzung für „Fracht 200“ – im Militärjargon die Bezeichnung für einen Gefallenen. „Die Markierungen soll unter den Besatzern das Gefühl von Sicherheit zersetzen und deren Operationen destabilisieren.“

Die Anhänger von Atesh, Srok oder anderer Widerstandsgruppen gingen in die Hunderte – sie seien beiderlei Geschlechts, jeden Alters und jeder sozialen Stellung, hat Ivan Fedorow noch im März gegenüber dem französischen Le Monde erklärt. Der ehemalige Bürgermeister von Melitopol sagte, auch wenn Kiew vielleicht damit scheitere, Territorium zurückzuerobern, wolle seine Stadt zeigen, dass der Widerstand anhalte und sich Russland keines Quadratmeters seiner annektierten Gebiete sicher sein könne.

Die bekannteste Gruppierung bildet fraglos Atesh: Am Anfang soll die Gruppierung nur aus einer Handvoll bestanden haben, bis zu einem Dutzend von Widerständlern. Bis heute soll die Zahl der Teilnehmer auf fast 2.000 aktive Agenten gestiegen sein, sowohl Militärs als auch Zivilisten. Das System der Bewegung sei gewachsen durch strenge Überprüfung neuer Rekruten und autonomes Handeln der meisten von ihnen, sodass die Kontakte untereinander so gering wie möglich gehalten würden. Ein Schlüsselelement des Erfolgs soll die Einrichtung autonomer Zentren im gesamten besetzten Gebiet der Ukraine und in Russland selbst gewesen sein, wie ein Kommandeur berichtet.

Putins Albtraum: Widerstand ermöglichte erfolgreiche Angriffe auf der Krim

Die Atesh-Gruppe allein geht somit über lokalen beziehungsweise regionalen Einfluss auf der Krim weit hinaus, wie The New Voice of Ukraine vor kurzem dargelegt hat. „Atesh ist derzeit auf dem gesamten vorübergehend besetzten Gebiet der Ukraine sowie in Russland von Kaliningrad bis Sibirien präsent. Unsere Agenten sind in Moskau, St. Petersburg, Toljatti, Perm, Anapa, Jeisk und vielen anderen russischen Städten tätig“, sagte „Eldar“ – dem Medium gegenüber offenbarte er sich als einer der Anführer von Atesh.

Die größten Erfolge auf der Krim gingen auf das Konto seiner Leute, sagt „Eldar“: also der Raketenangriff auf die Bucht von Sewastopol mit der Zerstörung des Landungsschiffes Minsk und des U-Bootes Rostow am Don im September 2023 sowie den Angriff auf das Hauptquartier der Schwarzmeer-Flotte und dem Verlust hochrangiger Offiziere. Neben der Aufklärung versuche seine Bewegung neue Agenten zu rekrutieren – beispielsweise durch Dokumentation von gelungenen Operationen auf X (vormals Twitter) und Telegram – immerhin 50.000 Follower hat dieser Kanal. Alle Erfolge werden publiziert, und seien sie scheinbar ein noch so gering zu bewertender Einzelfall; wie ein abgefackelter Verteilerkasten an eine Bahntrasse.

Gegenüber The New Voice of Ukraine gibt sich „Eldar“ selbstbewusst: „Durch ihre Aktionen stärken unsere Agenten die Moral der lokalen Bevölkerung und zeigen, dass Widerstand möglich ist und dass es Menschen gibt, die aktiv gegen die Eindringlinge kämpfen.“

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