Putin hält sich auffällig zurück: Ukraine erwartet russischen Großangriff auf kritische Infrastruktur
Die russische Armee hat wahrscheinlich Hunderte neue Raketen und Shahed-Drohnen aus eigener Produktion angehäuft. Ihre Ziele im Winter: die ukrainische Kritische Infrastruktur. Die westliche Flugabwehr wird Kiew nur bedingt helfen.
Es schneit und friert in der Ukraine und das Land bereitet sich auf mögliche Stromausfälle vor – auch ohne russische Zerstörung der Energieinfrastruktur. Aktuell gleicht der staatliche Stromversorger die fehlenden Mengen durch Importe aus Moldau, Rumänien und der Slowakei aus.
Ob diese aber bei noch kälterem Wetter auch ohne russische Treffer ausreichen, ist zweifelhaft: Wolodymyr Omeltschenko, Leiter des Energieprogramms bei der Denkfabrik Zentr Rasumkowa, geht von der Umstellung auf planmäßige Stromabschaltungen, und das bei Durchschnittstemperaturen zwischen -5 und -7 Grad, aus.
Was planmäßige Energieabschaltungen sind, wissen die Menschen in der Ukraine seit dem vergangenen Winter. Wegen zerstörter Leitungen, Trafos und Angriffen auf Kraftwerke wurden die Haushalte in Zeitblöcken versorgt: drei Stunden Strom, drei Stunden kein Strom. Die ersten Folgen nach den massiven Angriffen auf die Energieinfrastruktur im vergangenen Winter waren gewaltig. Ganze Stadtteile blieben manchmal für 72 bis 96 Stunden komplett ohne Strom, Heizung und Leitungswasser.
So bekommen Sie den Newsletter von Table.Media
Diese Analyse liegt IPPEN.MEDIA im Zuge einer Kooperation mit dem Security.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn Security.Table am 12. Dezember 2023.
Erhalten Sie 30 Tage kostenlos Zugang zu weiteren exklusiven Informationen der Table.Media Professional Briefings – das Entscheidende für die Entscheidenden in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Verwaltung und NGOs.
50 bis 60 Raketen pro Woche
In diesem Winter hält sich Russland nach einem Großangriff mit 75 Drohnen ausgerechnet am 25. November, dem Gedenktag des Holodomor, noch zurück. 74 Drohnen seien abgefangen worden, meldete die ukrainische Luftwaffe. Laut Ministerpräsident Denys Schmyhal waren Objekte der Energieinfrastruktur das Ziel – genauso wie im letzten Winter, als im Durchschnitt jede Woche 50 bis 60 Raketen und Dutzende von Drohnen auf Energieobjekte der Ukraine zielten.
Dass auf den ersten Angriff eines großen Drohnenschwarms viele weitere folgen werden, ist aber wahrscheinlich.
Russland produziert die ursprünglich iranischen Kampfdrohnen Shahed-136 inzwischen selbst – und hat sie auch noch weiterentwickelt. Auffällig ist zudem, dass die Angriffe mit Marschflugkörpern und Raketen im Herbst abgenommen haben. Dem Sprecher der ukrainischen Luftwaffe, Jurij Ihnat, zufolge könnte Russland bis zu 900 Raketen und Marschflugkörper für die winterliche Angriffswelle gesammelt haben.
Bessere Luftverteidigung als im vergangenen Winter
Die gute Nachricht für die Ukraine: Die Qualität der Flugabwehr hat sich im Vergleich zum Winter 2022/2023 deutlich verbessert. Damals war die Ukraine fast ausschließlich auf sowjetische Mittelstreckensysteme angewiesen. Weil die benötigten Abwehrraketen überwiegend in Russland produziert werden und für Kiew damit unerreichbar sind, setzte Russland auch gezielt darauf, die alten Vorräte auszuschöpfen.
Offenbar ist es den ukrainischen Streitkräften aber gelungen, westliche Flugabwehrraketen mit sowjetischen Systemen zu starten. Insgesamt entscheidender dürfte die Rolle westlicher Flugabwehr sein, zu deren Vorreitern Deutschland gehört. So hat sich die jüngste Patriot-Variante PAC-3 als effektiv sogar gegen russische ballistische Kinschal-Raketen erwiesen, was im Voraus nicht klar war.
Drei bisher gelieferte Patriot-Systeme und ein System SAMP/T werden große Städte effektiv gegen ballistische Raketen schützen, während das deutsche System IRIS-T – bisher drei geliefert – seine Effektivität bereits gegen klassische Marschflugkörper unter Beweis stellte. Die Flugabwehr-Kanonenpanzer Gepard sind darüber hinaus eine gute und kostengünstige Lösung, um nicht alle billigen Drohnen mit teuren Flugabwehrraketen abfangen zu müssen.
Kampfflugzeuge würden mehr Schutz bieten – doch die fehlen
Jedoch wird es für ein Land von der Größe der Ukraine –1,7-mal so groß wie Deutschland – immer zu wenig Flugabwehrsysteme geben. Um die Flugabwehr auf ein neues Niveau zu bringen, bräuchte die Ukraine Kampfflugzeuge. Dann könnte sie mit Schutz von oben riskieren, die Flugabwehr in Frontnähe zu verlegen. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass Energieobjekte getroffen werden und sich das auf das gesamte Stromnetz auswirkt.
Wegen Geheimhaltung ist es schwierig einzuschätzen, in welchem Zustand sich die Energieinfrastruktur nach monatelangen Reparaturen befindet. Fakt ist, dass Russland sich vor einem Jahr weniger auf den Beschuss der Kraftwerke selbst konzentrierte, die überwiegend in Sowjetzeit – mit der Möglichkeit eines Atomkriegs im Hinterkopf – gebaut wurden und daher schwer zerstörbar sind. Stattdessen wurden vor allem Transformatoren der Umspannwerke beschossen.
Stromerzeugung wird dezentralisiert
Aus russischer Perspektive war diese Taktik klug: Die Produktion eines Transformators dauert in Friedenszeiten oft länger als ein Jahr. Einem UN-Bericht aus dem April zufolge hat die russische Armee 42 von 94 der systemwichtigen ukrainischen Transformatoren beschädigt oder zerstört. Inwieweit die Produktion von 100 Transformatoren, die Kiew laut einem Economist-Bericht bestellt haben soll, fortgeschritten ist, wird entscheidend sein – ebenfalls wie der Zustand der alten, vor dem russischen Angriffskrieg ausgemusterten Transformatoren, auf denen die Hoffnungen ruhen.
Zum Schutz sind einige Energieobjekte nun mit Erdwällen und Betonwürfeln bedeckt. Außerdem arbeiten Energiebetreiber an der Dezentralisierung der Stromerzeugung. Kleinere Netze sollen die Verteilung der Energie flexibler und sicherer machen.
Insgesamt dürfte die Lage wegen der verbesserten Flugabwehr und weiterer Schutzmaßnahmen nicht schlechter als im vergangenen Jahr sein. Viel besser aber auch nicht. Denn zum einen sind nicht alle Schäden beseitigt worden. Und zum anderen hat auch Moskau aus dem ersten Winter gelernt und sehr wahrscheinlich Kapazitäten für die Angriffe aufgebaut. Die kalte Phase des Winters hat gerade erst begonnen.