Viele zivile Opfer: Ändert Israel nach der Feuerpause seine Strategie gegen die Hamas?
Im Krieg zwischen Israel und der Hamas wurden bislang auch unzählige Zivilisten getötet. Die Unterstützung der USA droht wegzufallen.
Gaza – Nach der Feuerpause im Krieg gegen die Hamas will Israel seine „Kriegsziele mit voller Kraft verwirklichen“, wie der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu versicherte. Die Hamas soll zerstört und alle Geiseln befreit werden. Für die möglicherweise entscheidende Kriegsphase müsste Israel jedoch seine Strategie umstellen. Diese Meinung vertritt zumindest Audrey Kurth Cronin vom Carnegie Mellon Institute for Strategy and Technology.
Die hohen zivilen Opferzahlen der Israel-Angriffe hatten zuletzt im Mittleren Osten in Europa für Proteste gesorgt. Kurth Cronin schrieb deshalb in einem Beitrag für Foreign Affairs: „Der beste Weg für Israel, die Hamas zu besiegen, besteht darin, die moralische Überlegenheit wiederzuerlangen, indem es seine Gewaltanwendung mäßigt und der palästinensischen Zivilbevölkerung mehr Schutz bietet.“
Feuerpause im Israel-Krieg – IDF könnte Vorsprung auf dem Schlachtfeld einbüßen
Mit jedem Tag der verlängerten Feuerpause büßt Israels Armee einen Teil ihres Vorsprungs auf dem Schlachtfeld ein. Vor der Waffenruhe habe Israel unter anderem eine sogenannte Bunker-Buster-Bombe in eines Tunnelsystems der Hamas im Norden des Gazastreifens geworfen. Ein Drohnenvideo auf X zeigt, wie sie tief in den Boden eindringt, bevor sie detonierte und unterirdische Ziele zerstörte.
Die israelischen Streitkräfte haben eigenen Angaben zufolge im Rahmen ihrer Bodenoffensive bisher über 600 Tunneleingänge, mehrere Kommandozentralen und zahlreiche andere militärische Einrichtungen der Hamas zerstört. Bis zu 4000 Kämpfer, darunter Raketenspezialisten, Sprengstoffexperten und Anführer der radikalislamischen Organisation, will Israel nach eigenen Angaben getötet haben. Die Zahlen lassen sich nicht unabhängig bestätigen.
Israel plant Angriffe in Südgaza gegen Hamas: Unterstützung von USA steht auf dem Spiel
Dagegen stehen nur 72 gefallene israelische Soldaten. Aber es soll auch laut der von der Hamas angeführten Gesundheitsbehörde in Gaza weit über 10.000 zivile Opfer gegeben haben. Hinzu kommen zahlreiche zerbombte Gebäuden, insbesondere im Norden des Gazastreifens. Premierminister Netanjahu hat bereits angekündigt, nach dem Ende der Feuerpause die Kämpfe auf den südlichen Gaza-Streifen ausdehnen zu wollen. Damit dürfte sich die entscheidende Phase des Kriegs anbahnen. Netanjahu stimmte seine Soldaten bei einem Truppenbesuch am Sonntag bereits darauf ein, „bis zum Ende“ weiterzumachen: bis zum Sieg. „Nichts wird uns aufhalten.“

Denn zwei hochrangige Anführer der Hamas in Gaza, nämlich Jajha Sinwar und Mohammed Deif, sollen sich irgendwo im Süden aufhalten – zusammen mit Tausenden von Kämpfern und wahrscheinlich auch einer beträchtlichen Anzahl von israelischen Geiseln. Zudem befindet sich dort der überwiegende Teil der rund zwei Millionen Bewohner des Gazastreifens. Auf Anweisung Israels sind sie aus dem Norden Richtung ägyptische Grenze geflüchtet.
Die israelische Armee hat bereits eine „humanitäre Zone“ bei Al-Mawasi bestimmt. Das Gebiet erstreckt sich etwa 2,5 Kilometer breit und rund vier Kilometer lang an der Mittelmeerküste. Trotzdem dürfte es bei so vielen Menschen schwierig werden, zivile Kollateralschäden zu vermeiden. Doch wenn Israels Angriffe weiterhin eine große Zahl an zivilen Opfern zufolge hat, könnten sie die Unterstützung der USA verlieren.
Israels bisherige Strategie im Gaza-Krieg „genau das, was Hamas wollte“
US-Präsident Joe Biden und auch sein Außenminister Antony Blinken sollen die israelische Führung aufgrund der hohen Opferzahlen bereits ermahnt haben. Es würden „viel zu viele“ palästinensische Zivilisten sterben, klagte Blinken. Erst der Druck aus dem Weißen Haus soll Jerusalem dazu bewogen haben, dem Austausch seiner Geiseln zuzustimmen.
Israel brauche eine neue Perspektive, glaubt Audrey Kurth Cronin vom Carnegie Mellon Institute for Strategy and Technology: „Der beste Weg für Israel, die Hamas zu besiegen, besteht darin, die moralische Überlegenheit wiederzuerlangen, indem es seine Gewaltanwendung mäßigt und der palästinensischen Zivilbevölkerung mehr Schutz bietet“, schreibt sie bei Foreign Affairs.
„Da das Ziel des Hamas-Angriffs darin bestand, Israel zu einer kontraproduktiven Überreaktion zu provozieren, hat die knüppelharte Antwort der IDF die öffentliche Meinung in der Region gegen Israel aufgehetzt. Genau, wie es die Hamas wollte“, berichtet Kurth Cronin. Hunderttausende Menschen gingen im Mittleren Osten und in Europa auf die Straße, um gegen den vermeintlichen „Genozid“ eines „mörderischen Israels“ zu protestieren und ein „freies“ Palästina zu fordern.
Israel solle gezielt angreifen und Kommunikation der Hamas im Gaza-Krieg stören
Es sei Teil der asymmetrischen Kriegsführung der Hamas, Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen und Wohnhäuser zu militärischen Zwecken zu missbrauchen. Es gebe Schutz für Kämpfer und Raketenbasen. Bei einem gegnerischen Angriff vervielfache sich die zivile Opferzahl, womit wiederum die Propagandamaschine angetrieben werde. „Israel hat jedoch die Möglichkeit, auf die Terroranschläge der Hamas strategisch und mit Zurückhaltung zu reagieren. Damit kann es der Hamas viel von ihrer Macht nehmen“, schreibt Kurth Cronin.
Dazu müsste sich Israel allerdings militärisch umstellen und sehr gezielte Angriffe auf die Hamas starten. Davon hatte auch US-Präsident Biden gesprochen, um zivile Opfer zu vermeiden. Großflächige Zerstörungen wie in Nord-Gaza sollten im Süden weitgehend vermieden werden – vorausgesetzt, Israel will das Image der Militäroperation zu seinen Gunsten verändern. Der verstärkte Einsatz von moderner Technik könnte zudem die Kommunikation der Hamas stören und ihre interne Abstimmung verhindern.
Nach der Feuerpause könnte es für die IDF jedoch schwierig sein, ihr „Momentum“ wieder aufzugreifen, wie der Militärhistoriker Danny Orbach von der Hebräischen Universität in Jerusalem befürchtet. Seiner Meinung nach werde „die Hamas gestärkt aus der Kampfpause hervorgehen.“ Sie sei dann neu organisiert und verfüge wahrscheinlich über Erkenntnisse über die Aufstellung des israelischen Militärs. Israelische Medien warnten davor, dass die Islamisten während der Feuerpause aus Ägypten Waffen einschmuggelten und neue Vorräte aus den Hilfsgütern anlegten. Orbach geht davon aus, dass sich die Hamas auch Treibstoff sichert.