Verteidigungsminister Pistorius seit einem Jahr im Amt: Zeitenwende in kleinen Schritten
Ein Jahr im Amt: Verteidigungsminister Boris Pistorius treibt die Modernisierung seines Ressorts und der Bundeswehr voran. Bei den wichtigsten Aufgaben aber hapert es.
Sein Programm für die Bundeswehr fasste Boris Pistorius gleich am ersten Arbeitstag in drei Worten zusammen. „Es geht um Abschreckung, Wirksamkeit und Einsatzfähigkeit“, sagte der neue Verteidigungsminister am 19. Januar 2023, wenige Stunden nach seiner Vereidigung, beim ersten öffentlichen Auftritt als Ressortchef im eisigen Wind auf dem Antreteplatz des Bendlerblocks in Berlin. Ein Jahr später ist der Niedersachse beliebtester Minister einer sonst nicht besonders beliebten Bundesregierung.
Das ist vor allem in seiner Fähigkeit begründet, besser als etliche Vorgänger(innen) die Bedeutung und Notwendigkeit der Streitkräfte zu kommunizieren. Doch ist er mit seinen drei Punkten Abschreckung, Wirksamkeit und Einsatzfähigkeit der Bundeswehr nach einem Amtsjahr nur begrenzt vorangekommen.
Das allerdings liegt nicht allein, noch nicht mal in erster Linie, an Pistorius. Bereits am Tag nach Amtsantritt musste er mit den Begrenzungen seiner Aufgabe klarkommen: Beim Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein in der Pfalz durfte der neue deutsche Verteidigungsminister im Kreis der Verbündeten der Ukraine keine deutschen Leopard-Kampfpanzer zusagen. Erst eine knappe Woche später gaben sein Chef, Bundeskanzler Olaf Scholz, und dann das ganze Bundeskabinett grünes Licht für die Lieferung der von der Ukraine so dringend erbetenen deutschen Waffensysteme.
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Diese Analyse liegt IPPEN.MEDIA im Zuge einer Kooperation mit dem Security.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte sie Security.Table am 19. Januar 2024.
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Schnell Beschaffungsvorhaben angeschoben
Schon Pistorius’ erste Woche an der Spitze von Verteidigungsministerium und Bundeswehr war damit ein Vorzeichen für seine weitere Tätigkeit. Mit so viel öffentlicher Zustimmung zu den Streitkräften in Zeiten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, dank 100-Milliarden-Sondervermögen mit so viel Geld wie schon lange nicht mehr ausgestattet, sah sich der Neue von Anfang an hohen Erwartungen gegenüber.
Vergessen wurde dabei oft, dass ein Verteidigungsminister wie alle anderen Kabinettsmitglieder in die Mühlen einer (Koalitions-)Regierung eingebunden ist. Und auch, dass die fein ziselierten Gesetze und Bestimmungen in Deutschland und Europa einem Chef der Streitkräfte auch in den aktuellen Krisen nicht größeren Freiraum gewähren.
Mit seinem neuen Generalinspekteur Carsten Breuer, den er im März als obersten Soldaten ins Ministerium holte, schob Pistorius schnell die großen Beschaffungsvorhaben der Truppe an. Neue Kampfjets, neue schwere Transporthubschrauber, das Luftverteidigungssystem Arrow aus Israel und das deutsche Flugabwehrsystem Iris-T SLM, um nur die teuersten Posten zu nennen, wurden bestellt. Doch bis sie bei der Truppe ankommen, werden Jahre vergehen: Die Produktionsdauer der komplexen Waffensysteme erlaubt keine schnelle Lieferung.
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Es werden Jahre vergehen, bis die Truppe gestärkt ist
Das gilt – besonders bitter für Minister wie Truppe – auch für das Gerät, was an die Ukraine abgegeben wurde. Es muss ersetzt werden, wenn die Bundeswehr nicht noch weiter Ausrüstung und damit ihre Fähigkeiten zur Abschreckung sowie ihre Wirksamkeit und Einsatzfähigkeit verlieren soll. 18 Kampfpanzer Leopard A2 lieferte Deutschland an die ukrainischen Streitkräfte, die im vergangenen Jahr bestellten Nachfolger werden noch eine Zeit auf sich warten lassen.
Das Beispiel Leopard A2 zeigt: Auch mit Zustimmung und Geld lassen sich die Lücken nicht schließen, die die Schrumpfentscheidungen der vergangenen Jahrzehnte in einer jahrelang immer kleiner werdenden Bundeswehr gerissen haben. Dass sich Pistorius dagegen stemmt, wird ihm innerhalb wie außerhalb der Truppe angerechnet. Auch wenn sich das bei Soldaten und Soldatinnen bislang noch kaum praktisch auswirkt. „Was ich im vergangenen Jahr bekommen habe? Einen neuen Rucksack“, merkt ein Stabsoffizier sarkastisch an.
Organisation des Ministeriums und der Bundeswehr ändert sich kaum
Das ist dem Minister kaum anzulasten. Schwerer wiegt da schon, wie fast schon zögerlich der Niedersachse agierte, wenn es darum ging, den eigenen Laden aufzuräumen. Zwar tauschte er sehr schnell den bedächtigen Generalinspekteur Eberhard Zorn gegen Breuer aus. Auch ein wichtiges Steuerungselement im Ministerium selbst, einen neuen Planungs- und Führungsstab, richtete er innerhalb weniger Monate ein.
Doch die Struktur von Ministerium und Bundeswehr insgesamt ließ er zunächst weitgehend unangetastet. Im Herbst verfügte Pistorius zwar einen Mini-Umbau der Abteilungen, der aber viel mit internen Organisationsabläufen zu tun hatte und nicht so erkennbar viel mit Schlagkraft. Dabei hatte er schon auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2023, sehr kurz nach Amtsantritt, öffentlich bekundet: Das Organigramm des großen, auch noch auf die Standorte Berlin und Bonn verteilten Ressorts habe wenig mit Effizienz zu tun. Grundlegend änderte er daran nichts.
Nicht mehr viel Zeit bis zur nächsten Bundestagswahl
Folgenschwerer dürfte allerdings sein, dass sich der Minister über Monate nicht zu einem Umbau der Strukturen der Bundeswehr selbst entschloss. Erst im November kündigte er an, sein Staatssekretär Nils Hilmer und der Generalinspekteur sollten neue Strukturen für die Organisation von Truppe, Teilstreitkräften und Organisationsbereichen erarbeiten.
Die sollen bis Ostern vorliegen – das Problem dabei: Auch wenn Ostern in diesem Jahr vergleichsweise früh liegt, bleibt dann nicht viel mehr als ein gutes Jahr, die dann beschlossenen Änderungen auch umzusetzen, ehe die nächste Bundestagswahl möglicherweise die Spitze des Ressorts wieder durcheinander wirbelt.
Und Klarheit über Strukturen und Zuständigkeiten erwartet die Truppe dringend. Schon Pistorius’ überraschende und mutig-energische Entscheidung im vergangenen Juni, in Litauen dauerhaft eine Kampfbrigade des Heeres zu stationieren, muss in die ganze Organisation eingepasst werden: Bekommt das Heer damit faktisch neun Brigaden, oder muss an anderer Stelle in Deutschland reduziert werden, damit es wie bisher bei acht Brigaden bleiben kann?
Wie groß soll die Bundeswehr sein? Pistorius lässt das noch offen
Das hängt nicht zuletzt auch mit den Plänen des Ministers für die künftige Größe der Bundeswehr zusammen. Bislang ließ Pistorius offen, ob er die Zielvorstellung seiner Vorgängerinnen von 203.000 Soldatinnen und Soldaten einschließlich rund 3.500 Reservisten beibehalten oder nach oben oder unten anpassen will.
Faktisch kommt die Truppe derzeit trotz aller Anstrengungen nicht über um die 181.000 Aktive hinaus; ob die Anstrengungen und Vorschläge einer „Task Force Personal“ das grundsätzlich verbessern werden, scheint zweifelhaft. Und die Andeutungen des Ministers für eine mögliche Reaktivierung der Wehrpflicht, nach welchem Modell auch immer, waren bisher vor allem für eines gut: Widerstand in der eigenen Partei und bei den Koalitionspartnern hervorzurufen.
Auf dem Weg, sein Programm zu verwirklichen, steht Pistorius deshalb noch eine weite Strecke bevor. Eines allerdings ist ihm in seinen ersten zwölf Monaten im Amt gelungen: Dass Deutschland Streitkräfte braucht und für ihre Wirksamkeit sorgen muss, wird zunehmend zum Konsens in der Gesellschaft. Auch wenn da bisweilen selbst seine Unterstützer ein wenig über die Wortwahl erschrecken. Verteidigungsbereit ja – aber mit Pistorius’ Begriff „kriegstüchtig“, so berechtigt er auch sein mag, hadern dann doch einige.