Nahost-Experte über Lage im Gazastreifen: „Der Druck auf Israel ist stark wie nie“
Hunger und neue Angriffe: Die Lage im Gazastreifen ist katastrophal. Auch Deutschland sollte seine Israel-Politik überdenken, so Nahost-Experte Peter Lintl.
Tel Aviv - Während die humanitäre Krise im Gazastreifen immer katastrophaler wird, startet die israelische Regierung eine neue Militäroffensive. Nun stellt die EU ihr Partnerschaftsabkommen mit Israel infrage – eine Mehrheit der Staaten (Deutschland gehört nicht dazu) will überprüfen, ob sich Israel noch an Grundprinzipien wie die Achtung der Menschenrechte hält. Der Nahost-Experte Peter Lintl von der Stiftung Wissenschaft und Politik spricht von einem „klaren Signal“ – und findet, dass auch Deutschland seine Unterstützung für Israel hinterfragen sollte.
Paris, London und Ottawa drohen Israel mit Sanktionen. Soll Berlin folgen?
Deutschland tut gut daran, bei dieser Frage vorsichtig zu sein. Aber zwischen Sanktionen und dem, wo die deutsche Außenpolitik derzeit steht, gibt es viele Zwischenschritte. Als die Union noch in der Opposition war, war kaum ein kritisches Wort zur israelischen Kriegsführung zu hören. Das hat sich mit dem Regierungsantritt ein Stück weit geändert – Außenminister Wadephul hat die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen angesprochen. Aber das reicht nicht. Die Bundesregierung muss öffentlich darüber sprechen, ob dieser Krieg noch zielführend und sinnvoll ist – und perspektivisch auch die Frage stellen, ob Israel Völkerrechtsverbrechen begeht.
Falls ja: Kann Deutschland dann noch Waffen liefern?
Ich glaube nicht, dass man Waffenexporte nach Israel generell stoppen muss. Aber die Bundesregierung muss für sich klären: Was dient der Verteidigung – und was nicht? Es gab früher dieses alte Diktum: Alles, was schwimmt, war für die deutsche Außenpolitik in Ordnung – etwa U-Boote als Abschreckungsmittel gegen den Iran. Andere Waffen, die im Rahmen der Besatzung gegen Palästinenser eingesetzt werden, wurden nicht geliefert. Davon ist man nach dem furchtbaren Angriff der Hamas am 7. Oktober zu Recht abgerückt. Aber vielleicht müssen wir wieder zu unserer alten Regelung zurückkommen, die besagt: keine deutschen Waffen im Gazastreifen, solange dieser Krieg so geführt wird, wie es derzeit geschieht.

Israel hat die Gaza-Blockade beendet. Laut UN ist das ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Das ist richtig: Die paar Lkw, die nun Lebensmittel in den Gazastreifen bringen, sind zu wenig. Darüber brauchen wir gar nicht zu diskutieren. Für Netanjahu ging es wohl in erster Linie um ein Einlenken gegenüber den westlichen Partnern, die immer mehr Druck auf ihn ausüben.
Nicht um die Zivilisten?
Netanjahu erweckt nicht den Eindruck, als hätten die Zivilisten besonders hohe Priorität für ihn. Ich würde sogar sagen: Bei einigen Regierungsmitgliedern ist eher das Gegenteil der Fall. Da wird auch häufig gefordert, dass die Palästinenser den Gazastreifen verlassen sollen – das liefe dann zwangsweise auf eine Vertreibung oder sogar ethnische Säuberung hinaus.
Und Netanjahu folgt diesem Kurs, um seine Macht zu erhalten?
Nach mehr als anderthalb Jahren Krieg drängt sich diese Deutung auf. Netanjahu wollte selbst lange nicht, dass der Gazastreifen wiederbesetzt wird oder dass die Palästinenser vertrieben werden. Aber inzwischen ist er sukzessive in viele der Pläne seiner radikalen Koalitionspartner hineingerutscht. Seine Koalitionspartner hätten sonst aller Wahrscheinlichkeit nach die Regierung verlassen – und er wäre abgewählt worden.
Welche Folgen hätte eine Wiederbesetzung?
Der israelische Plan sieht vor, dass die Palästinenser in eine sogenannte „humanitäre Zone“ gepfercht werden – die macht vielleicht 15 Prozent des Gazastreifens aus. Das schreit nach einer noch größeren humanitären Katastrophe. Zweitens: Man läuft Gefahr, dass es einen permanenten Guerillakrieg gibt – mit Milizen, mit Kämpfern im Untergrund. Und drittens würden auf Israel enorme Kosten zukommen. Schätzungen zufolge würde die Wiederbesetzung zehn Milliarden Dollar kosten – das sind knapp zehn Prozent des israelischen Haushalts. Und schließlich würde Israel international immer weiter isoliert werden.
Die Gespräche in Doha sind geplatzt. Ist überhaupt kein Kriegsende in Sicht?
Bisher zeigt sich keine der Seiten in entscheidenden Punkten kompromissbereit. Dass jetzt die Gespräche erneut gescheitert sind, ist Beleg dessen. Gleichzeitig sehen wir, dass der internationale Druck auf Israel, inklusive der USA, so stark wie noch nie geworden ist.