Der „Riesenschritt” von Boris Pistorius ist nur ein Schrittchen
Meine militärische Erfahrung? Ein Musterungsbescheid zum 18. Geburtstag (trügerischer Vorname…), eine Woche Krisentraining im Hammelburger UN-Ausbildungszentrum der Bundeswehr (lehrreich), eine Fahrt nach Helgoland auf dem Minenjagdboot Koblenz (bin für die Hochsee ungeeignet), eine U-Boot-Besichtigung in Eckernförde (eng) und zwei Neujahrsempfänge am Luftwaffenstützpunkt Köln-Wahn (heiter). Nicht eingerechnet ist das jahrelange Studium von Filmmaterial wie „Ein Offizier und Gentleman“.
80.000 Soldaten fehlen
Kurzum: Ich bin ungedient, erlaube mir aber dennoch eine Meinung zur Landesverteidigung. Deutschland braucht mehr davon, konkret: etwa 80.000 zusätzliche, aktive Soldaten und Soldatinnen.
Die Nato-Vorgabe sieht 260.000 Männer und Frauen in der stehenden Truppe vor, um für den Konfliktfall gewappnet zu sein. Derzeit verfügen wir über knapp 183.000, darunter die stagnierende Zahl von 171.650 Zeit- und Berufssoldaten.
Die Lücke soll ein freiwilliges Wehrdienst-Modell schließen.
Niemand kennt Putins Zeitplan
Doch Wladimir Wladimirowitsch wird gestern nicht vor Schreck unter seinen Kreml-Tisch gekrabbelt sein, als das Bundeskabinett Fragebögen ab 2026 und verpflichtende Musterungen ab 2027 beschlossen hat.
Es ist ungewiss, ob Russlands Präsident sich an die Annahme von Experten hält, erst 2029 wieder ein europäisches Land unter Feuer zu nehmen. Vielleicht hegt er früher Invasionsgelüste. Oder auch nie. Aber: Möchte man es darauf ankommen lassen?
Freiwilligkeit ist eine Hoffnung
Freiwilligkeit, auf die die SPD beharrt, klingt edel – im Ernstfall kann sie fatal sein. Die aktuell 11.000 bis 12.000 freiwillig Wehrdienstleistenden perspektivisch auf 25.000 bis 30.000 pro Jahr zu steigern, ist eine Hoffnung von Boris Pistorius. Mehr nicht. Und erst recht nicht der „Riesenschritt“, als den er den Kabinettsbeschluss bezeichnete.
Eher ein Schrittchen: Mehr Sold (konkret: 2.300 Euro ab September) und bessere Ausbildungschancen sind gewiss Anreize – doch warum verweigert sich der Verteidigungsminister messbaren Zielvorgaben, um zu prüfen, ob sie auch funktionieren?
Mutlose Wehrdienstreform
Und wieso wird nicht zumindest an einer Verfassungsänderung gearbeitet, die eine Wehrpflicht auch für Frauen ermöglicht? Die Hürden sind so groß. Will man wirklich auf den Verteidigungsfall warten? Dann übrigens würden – bis auf Kriegsdienstverweigerer und Untaugliche – automatisch alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren eingezogen. Auch solche, die nicht gedient haben.
Bundeskanzler Friedrich Merz will die Bundeswehr zur stärksten Armee in Europa machen. Diesem Versprechen ist er gestern nicht wirklich näher gekommen.
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