Michel Friedman warnt: „‚Wehret den Anfängen‘ ist zu einer furchtbaren Floskel verkommen“

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Am Donnerstag jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 80. Mal. Michel Friedman warnt im Interview mit der FR vor der AfD.

Der Publizist und Jurist Michel Friedman warnt am 80. Jahrestag des Kriegsendes vor Lethargie in der Auseinandersetzung mit der AfD – er nimmt die demokratischen Parteien und die Bürgerinnen und Bürger in die Pflicht. Der ehemalige CDU-Politiker und einstige Vize-Vorsitzende des Zentralrats der Juden ist der Sohn von Juden, die vom Unternehmer Oskar Schindler vor dem Holocaust gerettet wurden. Ein Großteil seiner Familie wurde von den Nazis ermordet.

Herr Friedman, 80 Jahre nach Kriegsende liegt in Deutschland eine rechtsextremistische Partei in den Umfragen vorne. Wiederholt sich Geschichte?

Geschichte wiederholt sich immer. Auschwitz ist der Endpunkt der Gewalt, aber vorher gab es viele Anfangspunkte der Gewalt, die man nicht rechtzeitig verhindert hat. Wir haben nach 1945 bewusst die Metapher ‚Wehret den Anfängen’ gesetzt. Das ist heute zu einer furchtbaren Floskel verkommen. Wir sind nicht in den Anfängen, sondern mittendrin: Eine strukturell antidemokratisch menschenverachtende Hasspartei sitzt in allen demokratischen Gremien, inklusive des Bundestags, wo sie sogar die größte Oppositionspartei stellt.

Publizist Michel Friedman ist 2025 aus CDU ausgetreten.
Publizist Michel Friedman ist 2025 aus CDU ausgetreten. © IMAGO/Bernd Elmenthaler

Wie konnte es so weit kommen?

Wir haben uns in den letzten 20 Jahren in die Hängematte gelegt, wir sind dekadente und opportunistische Demokraten mit vielen Ausnahmen, die sich engagieren. Vom ersten Tag der Gründung der Bundesrepublik an hätten wir mit leuchtenden Gesichtern und einer großen inneren Freiheit die Demokratie feiern müssen. Man kann in Deutschland vor ein Verwaltungsgericht gehen, wenn man einen Strafzettel bekommt. In Diktaturen bekommt man selbst für lange Haftstrafen keine freie Verteidigung. Wir hätten die Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit viel deutlicher nicht als verantwortliche Bürde, sondern als Chance für Kreativität, Offenheit, Experimente verstehen müssen. Wir hätten wählen gehen müssen mit einem selbstbewussten glücklichen Verständnis. Stattdessen fühlen sich viele überfordert und nehmen ihr Recht gar nicht wahr. Wir hätten aktive Demokraten werden müssen – die gibt es, sie sind aber in der Minderheit.

Sie sind aus der CDU ausgetreten, als Friedrich Merz die Stimmen der AfD zur Migrationspolitik in Kauf nahm

Es ging um eine fundamentale Frage: Wenn ich mit einem Antidemokraten auch nur Annäherung beginne, vergifte ich mich mit, weil ich mein Koordinatensystem in eine Richtung geöffnet habe. Dieses Koordinatensystem muss – nicht wegen Auschwitz, sondern weil Deutschland sich für ein Grundgesetz der Menschenwürde entschieden hat – maximal abgrenzen gegen jegliche Partei, Stiftung oder Person, die behauptet, die Würde des Menschen ist antastbar. Es gibt keine Brücke zwischen einer Partei, die nicht auf dem Boden des Grundgesetzes steht und der Demokratie.

Michel Friedman: „Keine Wählerlegitimation legitimiert den Abbau des Grundgesetzes“

Muss diese Abgrenzung ein Verbotsverfahren nach sich ziehen?

Das Verbotsverfahren wurde ganz bewusst in die Verfassung der Bundesrepublik aufgenommen. Auch das war doch eine Lehre aus den Zeiten der Weimarer Republik. Das Grundgesetz schreibt den Verfassungsorganen sogar vor, Individuen das passive Wahlrecht abzusprechen oder Parteien zu verbieten, wenn die Verfassung angegriffen wird. Nach herrschender Meinung wäre das sogar bei einer Partei mit der absoluten Mehrheit so. Keine Wählerlegitimation legitimiert den Abbau des Grundgesetzes. Nach dem Bericht des Verfassungsschutzes wird der Schritt konkreter.

Wie schätzen Sie als Jurist die Erfolgschancen ein?

Kaum jemand hat den Bericht gelesen und geprüft, darum wissen wir nicht, ob genügend Material vorliegt. Ich verstehe aber, wenn Leute argumentieren, ein Verbotsverfahren ist die ultima ratio. Das hängt von der politischen Einschätzung ab, wie sehr Demokratie bereits jetzt gefährdet ist. Alle die noch warten wollen, unterstellen, dass es die politische Auseinandersetzung schaffen wird, die Partei zurückzudrängen.

Kann politische Auseinandersetzung das schaffen?

Darüber kann man streiten. Aber die demokratischen Parteien müssen sich doch fragen lassen, warum sie nicht schon seit Jahren einen harten Kurs gefahren sind. Und warum sie von Protestwählern gesprochen haben. Denn ein Protestwähler wäre jemand, der nicht weiß, was er tut und sich nicht mit der Gruppe identifiziert. Wir nehmen aber doch die Wähler der anderen Parteien auch ernst. Nur bei der AfD behaupten sie, die Wähler meinen es nicht so. Bereits da beginnt eine Entlastung, die dazu geführt hat, dass man die Auseinandersetzung nicht gesucht hat. Damit hat man auch die Bedrohung durch die AfD kleingeredet.

Friedman: „In Deutschland herrscht keine Streitkultur“

Wie soll Politik stattdessen mit der AfD umgehen?

Spätestens mit ihrer Wiederwahl in den Bundestag hätte man damit aufhören müssen und in aller Deutlichkeit eine Debattenkultur mit den Parteigrößen und ihren Wählern schaffen müssen. Und zwar nicht nur als politischer Prozess, im Parlament, sondern auch von Millionen Bürgerinnen und Bürgern. Die Menschen sagen ja mittlerweile völlig ungehemmt ‚ich wähle die AfD’. Es muss gestritten werden, es muss gerungen werden durch eine klare Haltung. Und das ist in der Masse der Bevölkerung am Abendbrottisch, im Verein, im Büro nicht ausreichend geschehen. Wie soll man mit denen reden? Indem man mit denen redet. Sehr anstrengend. Aber man muss es tun.

Wie kann man die Wähler zurückgewinnen?

In Deutschland herrscht keine Streitkultur. Streitkultur ist aber der Sauerstoff der Demokratie. Wenn die Menschen keine positive Beziehung zum Streit haben entwickeln sich Betonklötze und Bunker in der Gesellschaft um Menschen selbst. Wir hätten streiten müssen mit denen, die gesagt haben, ‚An Hitler war doch alles gut, wenn er nicht Auschwitz gemacht hätte’. Oder: ‚Damals war noch Recht und Ordnung.’ Oder sobald jemand einzelne Gruppen diskriminiert. Jetzt geht es darum, zu streiten. ‚Warum hast du das gemacht, wusstest du was du gemacht hast? Siehst du nicht was die Konsequenzen sind?‘ Den Antidemokraten stehen viel mehr Demokraten entgegen, denen aber das Selbstbewusstsein fehlt, dass sie das bessere Produkt verkaufen.

Michel Friedman: „Ich würde keinen AfD-Wähler als Rassisten bezeichnen“

Ist jeder AfD-Wähler ein Rassist?

Ich würde keinen AfD-Wähler als Antisemit oder als Rassisten bezeichnen. Aber ich würde sagen: ‚Du unterstützt mit deiner Stimme Antisemitismus und Rassismus’. Und das ist ein Vorwurf. Es gibt keine Begründung und keine Entschuldigung, und sei die Politik der anderen Parteien noch so schlecht, die es rechtfertigt, eine Partei zu wählen, die in ihrem Kern den Menschen hasst. Das ist das große Missverständnis. Aus Protest eine antidemokratische Partei zu wählen, ist eine systemverändernde Entscheidung. Jeder, der der AfD seine Stimme gibt, gibt dieser Partei die Macht, ihr Programm umzusetzen. Und ihr Programm ist es, die Demokratie zu zerstören. Damit werde ich ein Mittäter.

Ihre Eltern und ihre Großmutter haben dank Oskar Schindler den Holocaust überlebt, der überwiegende Teil ihrer Familie wurde von den Nazis ermordet. Was bedeutet Ihnen die Verantwortung des Einzelnen?

Wir sind nicht hilflos. Es stimmt nicht, dass der Einzelne nichts tun kann. Schindler hat bewiesen, dass das eine feige billige Entschuldigung ist. Man kann. Und heute in der Demokratie sowieso. Wenn ich mich traue den Mund aufzumachen, kann es sein, dass ein gruppendynamischer Prozess entsteht, weil sich andere zu mir gesellen, die den Mut nicht hatten.

Ich glaube, dass der Mensch lernfähig ist auch ein AfD-Wähler. 50 Personen meiner Familie habe ich nie kennengelernt. Das sind für mich Schatten und Gespenster, es gab nicht mal Bilder. Wenn ich nicht glauben könnte, dass Menschen lernen können, wie hätte ich es denn dann in Deutschland ausgehalten zwischen 1965 und 2025?

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