„Hochwertwaffe“: Die große Chance der F-16 liegt in der Munition und der Taktik

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Der ukrainische Präsident Selenskyj steht vor einer F-16, die die Ukraine gerade geliefert bekommen hat. © IMAGO / Kyodo News

Ohne Waffen sei die F-16 wertlos, wettern Praktiker. Die ersten Jets sind in der Ukraine gelandet. Jetzt ist zu klären, was sie soll, kann und darf.

Kiew – „Die F-16 wird sicher nicht die Rolle eines klassischen Erdkampffluges einnehmen“, sagt Markus Reisner. Der Oberst des österreichischen Bundesheeres warnte jüngst im ZDF vor einer Überschätzung der Möglichkeiten dieses Flugzeugtyps, von dem die ersten Exemplare gerade in der Ukraine gelandet sind. Dafür sei sie auch zu kostbar – als Hochwertwaffe bezeichnet Reisner diesen Kampfjet im Ukraine-Krieg und sieht seine Chance darin, auch als solche gegen Wladimir Putin eingesetzt zu werden.

Beispielsweise durch Ausrüstung mit entsprechenden Luft-Boden-Waffen, wie Reisner sagt. Die Ukrainska Prawda wiederum berichtet von russischen Militärbloggern, die versucht hätten, den Einfluss der Maschinen auf das Kriegsgeschehen herunterspielen. „Diese Reaktion untergräbt sogar die russischen Propagandabemühungen, die versucht haben, die Lieferung von F-16 und anderen westlichen Waffen als kritische und inakzeptable ,rote Linie‘ darzustellen“, schreibt die Prawda.

Ukraine hat Nachholbedarf: Für effektiven Einsatz sind 150 Maschinen nötig

Markus Reisner spricht von bis zu 150 Maschinen, die in einem Rotationsverfahren versuchen müssten, die Lufthoheit über der Ukraine wiederzubekommen; angedacht sind zunächst bis zu 65 Stück. Angekommen sind eine Handvoll. Dem russischen Außenminister Sergej Lawrow jedenfalls machen selbst die wenigen Maschinen schon Angst: „Im Laufe der Kampfhandlungen werden unsere Soldaten nicht herausfinden, ob jedes einzelne Flugzeug dieses Typs für den Transport von Atomwaffen ausgerüstet ist oder nicht“, sagte er gegenüber dem Medium lenta.ru, wie die russische Nachrichtenagentur Tass berichtet. „Wir werden die bloße Tatsache, dass die ukrainischen Streitkräfte über solche Systeme verfügen, als Bedrohung aus dem Westen im nuklearen Bereich betrachten.“

„Jede Maßnahme, die in der Lage ist diesen schrecklichen Krieg zu beenden, ist auf jeden Fall eine Maßnahme, der man eine Chance geben sollte.“

Letztendlich entscheidend seien die zum Einsatz kommenden Waffen, so Reisner – in denen sieht er die große Chance der Ukraine. Die F-16 sei lediglich das Trägersystem, also die Plattform für diese Munition. Aber auch das sei letztendlich vermutlich zweitrangig, mutmaßt der Österreicher. Er hatte mehrfach moniert, im Ukraine-Krieg fehle so etwas wie ein „ATACMS-Effekt“, wie er sagt, also eine Häufung von spektakulären Einschlägen beispielsweise in Munitions-Depots oder ähnlichem, um Russland häufig, hart und wirkungsvoll in dessen Logistik zu treffen.

Demgegenüber habe die Ukraine wohl versucht, gezielt Batterien mit S-300 oder S-400-Luftabwehr-Raketen mit hoher Reichweite zu neutralisieren – letztendlich um den F-16 in der Luft in einem halbwegs sicheren Luftraum Ellbogenfreiheit zu verschaffen; um dann ihrerseits gegen Iskander-Stellungen oder anfliegende Marschflugkörper zu agieren – „das soll den F-16 eine hohe Möglichkeit des Überlebens geben“, sagt Reisner im ZDF. „Das Flugzeug selbst ist ohne die Waffen wertlos“, betont auch Generalmajor Rolf Folland aktuell im Wall Street Journal (WSJ).

Die Ukraine hat Ziele: An die Grenze fliegen und von dort aus schießen

Der Chef der Königlich Norwegischen Luftwaffe betrachtet deshalb die Größe der Chance der Ukraine durch die F-16 als unmittelbar abhängig von der Großzügigkeit und militärischen Weitsicht der Nato-Staaten. Laut dem WSJ gehören zu der Erstausrüstung der F-16 durch die USA beispielsweise AGM-88 HARM-Luft-Boden-Raketen – das sind in der Reichweite verbesserte Versionen von Joint Direct Attack Munition-Kits (JDAM) die ungelenkte und dadurch lediglich fallende Bomben umwandeln in intelligente, also auf ein Ziel zugleitende Waffen. Daneben werden Standard-Freifallbomben mit einem beschränkten Explosionsradius geliefert werden – beziehungsweise sind bereits geliefert worden.

Darüber hinaus rechnet das WSJ mit der Lieferung moderner Luft-Luft-Raketen mittlerer Reichweite, bekannt als AMRAAM (Advanced Medium-Range Air-to-Air Missile), und Kurzstrecken-Luft-Luft-Raketen AIM-9X. Die Ukraine wolle diese Raketen einsetzen, um an die Grenze zu fliegen und auf Russland zu schießen, schreibt das Journal. Angesichts der Bedrohung durch russische Boden-Luft-Raketen sei diese Taktik angesichts der gegenwärtigen Lage jedoch nicht realistisch, sagte gegenüber dem WSJ eine anonyme US-Quelle. Im Gegensatz zu den Ausführungen des Österreichers Reisner scheinen US-Offizielle die Waffe für am effektivsten in der Luftnahunterstützung zu sehen, wie das WSJ berichtet.

Putins hat ein Ass im Ärmel: Seine Flugabwehr lässt die F-16 gelassen kommen

Das wäre dann die Bekämpfung von Bodenangriffen der Besatzungsarmee – beispielsweise im Raum Charkiw, wo weiterhin heftige Kämpfe toben und die Ukrainer praktisch mit dem Rücken zur Wand stehen; Luftschläge würden den Verteidigern also möglicherweise sogar die Initiative zurückgeben. Darin liegt der offensichtliche Dissens in der Beurteilung des Waffeneinsatzes zwischen den USA und ihren westlichen Nato-Partnern. „Europäer hingegen meinen, dass die F-16 zur Luftverteidigung eingesetzt werden können und möglicherweise dabei helfen, Moskaus Luftwaffe weiter von der Frontlinie wegzudrängen, wo ihre Flugzeuge jeden Monat Tausende sogenannter Gleitbomben mit verheerender Wirkung abwerfen“, schreibt das Journal.

Auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung streiten sich darüber aktuell die Gelehrten: „Wenn die Russen eines haben, dann sind es gute Flugabwehrsysteme“, sagt gegenüber der F.A.Z. beispielsweise Kelly Grieco. Die Militäranalystin des Thinktanks Henry L. Stimson Center kritisiert den überholten technischen Stand der gelieferten Maschinen – im Besonderen die fehlende Tarnkappentechnik. „Die ,Durchführbarkeit und Effektivität‘ von F-16-Einsätzen stoße bei Offensivoperationen an Grenzen“, zitiert sie die F.A.Z.

Russland bleibt unerbittlich: Die F-16 soll den Abnutzungseffekt forcieren

Als scheinbar grenzenlos bezeichnet der Offizier und Militärhistoriker Markus Reisner allerdings die russische Verbissenheit, in dem er gegenüber dem ZDF klargemacht hat, dass bisher noch keine Spur von einem lange erwarteten Abnutzungseffekt einer der beteiligten Kriegsparteien zu erkennen zu sein scheint. Reisner verwies in dem Zusammenhang auf Studien des britischen Thinktanks Royal United Services Institute (RUSI), nach dem aktuell rund 650.000 russische Soldaten an der Front stünden im Vergleich zu den weniger als 190.000 Russen, die in die Ukraine einmarschiert waren. Trotz aller Rückschläge und Verluste sei Russland im Gefechtsgeschehen inzwischen auch gefestigt.

Laut dem US-amerikanischen Air & Spaces Forces Magazine waren die vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj präsentierten Jets tatsächlich mit radargesteuerten Luft-Luft-Raketen mittlerer Reichweite vom Typ AIM-120 AMRAAM und Infrarot-Luft-Luft-Raketen kurzer Reichweite vom Typ AIM-9 Sidewinder ausgestattet. Vermutungen über den Ausrüstungsstand hatten sich also bewahrheitet.

Putin, Selenskyj und der Westen im Clinch: Wie viel Eskalation wird erlaubt sein?

Die Fähigkeiten dieser Waffen variierten je nach Variante, erläutert Air & Spaces Forces. Die Jets in der Ukraine trügen offenbar das Modell AIM-9: „Im Vergleich zu den ältesten Sidewinder können sie ihr Ziel aus größeren Winkeln anvisieren – sogenannte Off-Boresight-Fähigkeit“ – diese Raketen sind also fähig, Ziele abseits der Längsachse erfassen zu können, ihr Sucher hat dafür einen größeren Schwenkwinkel. „Die US Air Force ist jedoch auf die neue, weiterentwickelte AIM-9X umgestiegen, die über Lock-After-Launch, bessere Manövrierfähigkeit und verbesserte Gegenmaßnahmen verfügt“ – also über das Anvisieren eines Zieles erst nach dem Abfeuern, wie Air & Spaces Forces schreibt.

Viele der Waffen seien laut dem Magazin bereits in die Ukraine geliefert und vorerst an die in der Ukraine vorhandenen MiG- und Suchoi-Maschinen montiert worden. Allerdings bleibt die Frage zu beantworten, wie weit ins russische Territorium hinein die westlichen Maschinen wirken dürfen, um die Russen nicht über Gebühr zu provozieren. US-Präsident Joe Biden hat Präsident Wolodymyr Selenskyj die Zusage abgerungen, die F-16 keinesfalls für Angriffe auf gegnerisches Territorium einzusetzen – das hatte die Neue Zürcher Zeitung bereits im vergangenen Jahr gemeldet.

Die Reichweite westlicher Waffen sehen die Unterstützerstaaten immer im Verhältnis zur Kürze der Lunte in Moskau. „Diese Entscheidung ist für unsere Partner wahrscheinlich schwierig, da sie immer eine unnötige Eskalation befürchten“, sagte Selenskyj zur Vorstellung der Maschinen, wie Air & Space Forces schreibt.

Wie die F-16 auch eingesetzt würde oder welche militärischen Maßnahmen die Parteien in eine Friedensverhandlung zwingen würden – der österreichische Oberst Reisner riet im ZDF zu abwartendem Beobachten, oder wie er sagte: „Jede Maßnahme, die in der Lage ist, diesen schrecklichen Krieg zu beenden, ist auf jeden Fall eine Maßnahme, der man eine Chance geben sollte.“

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