Hinter dem Titel der Sonderausstellung „Butter, Vieh, Vernichtung – Nationalsozialismus und Landwirtschaft im Allgäu“ verbirgt sich nicht nur eine besonders beeindruckende Fülle an Material und Wissen. Die Schau in der Kälberhalle bietet vielfältige persönliche Zugänge, sich den großen Fragen von Geschichte und Gegenwart menschlich und emotional zu nähern.
Kempten – Ein Beispiel ist Lotte Hartl: Sie hatte gleich am Eröffnungstag mit ihren 80 Lebensjahren bei größter Hitze das Bedürfnis, von Wolfertschwenden nach Kempten zu radeln, um zu sehen, wie in der Ausstellung die Lebensgeschichte von Anni Wrzesinski, geb. Zick, die sie persönlich kannte, dargestellt wird. Die junge Magd Anni verliebte sich in den polnischen Zwangsarbeiter Henryk, sie wurde von ihm schwanger. Nachdem ihr gemeinsamer Dienstherr, ein Bauer, sie wegen „Rassenschande“ denunziert hatte, deportierten ihn die Nazis nach Dachau, sie nach Ravensbrück.
Beide überlebten und heirateten 1946 in Wolfertschwenden. Die Diskriminierung fand aber kein Ende, nicht einmal in der eigenen Familie. Henryk warf sich 1993 vor einen Zug. „Ich bewundere Anni, weil sie nicht zerbrochen ist und um die Liebe ihrer Tochter gekämpft hat, die nach ihrer Deportation bei den Großeltern lebte“, sagt Hartl. Erst nach einem gemeinsamen Besuch der Gedenkstätte Ravensbrück habe es ihre Tochter geschafft, zu ihr „Mama“ zu sagen. Halt gefunden habe Anni in ihrem Glauben. „Es erschüttert mich, was Menschen Menschen antun können“, schafft Hartl die Verbindung zur Gegenwart. „Ich verstehe nicht, wie man nur zuschauen kann, statt aktiv zu werden.“ Die Hilflosigkeit der Menschen gehe ihr zu Herzen.
„Schlussstrich“ wäre ein „Trugschluss“
Diese Aussage erinnert an die viel zitierten Worte der Philosophin Martha Nussbaum: Man müsse sich „in der Person eines anderen verletzlich“ machen. Genau das passiert oft in den Gesprächen mit Zeitzeugen. Anni Wrzesinski war eine von ihnen: Sie teilte ihre Erfahrungen nicht nur mit den Leuten im Dorf wie Lotte Hartl, sondern ging regelmäßig in Schulklassen und löste bei den jungen Menschen ähnliche Emotionen wie bei der jetzt 80-Jährigen aus. Das authentische Erzählen weckt Empathie, das Nachempfinden führt zum dringenden inneren Wunsch: Das darf nicht nochmal passieren, und zum Gedanken: Ich trage dafür eine bestimmte Verantwortung.
In dem Prozess, den Frank Tretmann als „Out of the Darkness“ beschreibt (deutsche Ausgabe: „Aufbruch des Gewissens“, S. Fischer 2023), fiel den Zeitzeugen auch deshalb eine bedeutende Rolle zu. Der Weg „aus der Finsternis“, auf dem die Erinnerungskultur zu einer zentralen Säule der demokratischen politischen Kultur in Deutschland wurde, war lang und alles andere als einfach. Jetzt, wenn 80 Jahre nach Kriegsende die Stimme der Zeitzeugen endgültig verstummt, stellt sich die Frage nach einer geeigneten Form der Erinnerung, wie es Oberbürgermeister Thomas Kiechle bei der Pressekonferenz zur Eröffnung der Ausstellung formulierte. Diese Erinnerung sei bei der aktuellen Lage in der Welt und hierzulande, die „die Gefahr birgt, die historisch unvorstellbare Zeit zu wiederholen“, wichtiger denn je. Man müsse sich gegen den „Trugschluss“, einen „Schlussstrich“ unter die NS-Zeit ziehen zu können, sträuben. (Laut der aktuellen MEMO-Studie sind 38,1 Prozent für und nur noch 37,2 Prozent gegen den „Schlussstrich“.)
Jens Schley, wissenschaftlicher Geschäftsführer der Bildungsagenda NS-Unrecht bei der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ), die das Projekt maßgeblich finanziert, wies auf ein anderes Ergebnis der MEMO-Studie hin: Man weiß viel über die NS-Zeit, ohne dieses Wissen mit dem Geschehen vor Ort verbinden zu können.
Konzept mit Alleinstellungsmerkmalen
Genau hier setzt das Konzept von „Butter, Vieh, Vernichtung“ an. Das Team unter der Leitung von Projektinitiatorin und -leiterin Dr. Veronika Heilmannseder, der Ersten Vorsitzenden des Maßnahmenträgers Cultura Kulturveranstaltungen e.V., sammelte ein Jahr lang Dokumente, Fotos, Gegenstände, private Briefe, persönliche Geschichten u.v.m. und führte an authentischen Orten zahlreiche Workshops durch. Roman Tischberger, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Vorhabens, durchsuchte die örtlichen Archive des Allgäus. Museen und Institutionen in der Region wurden gebeten, ihre Bestände nach passenden Ausstellungsstücken zu durchforsten.
Was zusammengekommen ist, sprengte den ursprünglich geplanten Rahmen, die Ausstellungsfläche musste von der halben auf die ganze Halle erweitert werden. Dass die Schau in dieser Größe und mit einer großen fachlichen Tiefe termingerecht steht, sei dem riesengroßen Engagement und der schier unbegrenzten Energie der Ausstellungsmacher zu verdanken, betonte Dr. Christine Müller Horn, die mit Heilmannseder zusammen das Projekt und die Ausstellung leitet. Bereits bei der ersten Führung mit ihrem Servicepersonal habe sie feststellen dürfen, dass das Präsentierte die Herzen der Menschen erreiche, die Besucher anrege, persönliche Geschichten zu erzählen und auf weitere Zeitdokumente hinzuweisen. Eine Tafel am Ende der Ausstellung lädt dazu ein, diese zu notieren.
Multiperspektivität bei der Ausstellungsgestaltung
Das thematische Anordnen und die konkrete Umsetzung der Ausstellung habe das für die Gestaltung zuständige Studio Sued vor richtige Herausforderungen gestellt, berichtet dessen zuständige Leiterin Tanja Kapahnke. Im denkmalgeschützten Raum gibt es eine vorgegebene Teilung auf vier Bereiche, die „Stube“, „Stall“, „Produktion“ und „Gewaltorte“ genannt werden. Schnell war klar, dass man mit frei stehenden Ausstellungswänden und Vitrinen arbeiten müsse. Aushänge mit wichtigen Informationen wurden damals an die Wände geklebt, diese Methode hat man hier auch verwendet.
In der Mitte des Raumes gibt es den „Dorfplatz“, der in einen Innen- und Außenraum gegliedert ist, je nach dem, was das NS-Regime gerne zeigte bzw. verbarg. Eine mit Hakenkreuz verzierte Geige zieht die Blicke genauso auf sich wie das Plakat zu der Andreas-Hofer-Aufführung der Altusrieder Freilichtbühne mit überdimensionierter Hakenkreuzfahne. Die Multiperspektivität von der Seite der Täter und der Opfer ist in allen Bereichen vorhanden. Zugang findet man, indem man Texte liest, Bilder und Gegenstände betrachtet, Filme anschaut oder Tondokumente anhört. An den Außenwänden werden die Ergebnisse der Workshops gezeigt.
Es war unmöglich, nichts mitzubekommen
Um alles aufnehmen zu können und auf sich wirken zu lassen, empfiehlt es sich, die Schau in der Kälberhalle mehrmals zu besuchen und sich für das Kennenlernen einzelner Schicksale Zeit zu nehmen. Aber bereits nach einem kurzen Besuch wird man überzeugt: Die NS-Ideologie durchdrang alle Bereiche des Lebens, von den öffentlichen Plätzen bis zu den Schlafzimmern, vom Kindesalter bis zum Lebensende. Man konnte den „Siegeslauf des Hakenkreuzes“ sogar mithilfe eines Brettspiels verinnerlichen. Bei der Dichte von KZ-Außenlagern und beim flächendeckenden Einsatz von Zwangsarbeitern – von Großbetrieben über Bauernhöfe bis zu privaten Haushalten – war es unmöglich, nichts mitzubekommen. Für das individuelle Handeln gab es beachtliche Spielräume.
Die landwirtschaftliche Produktion war für die Versorgung der Front und der Bevölkerung entscheidend, und wurde genaustens geplant und kontrolliert. Bei seiner Archivrecherche entdeckte Tischberger beispielsweise eine Liste, nach der im Arbeitsamtsbezirk Kempten im Mai 1940 246.175 Rinder und 336.349 Hühner gezählt wurden. Einiges in der NS-Zeit Entstandene lebt bis heute weiter. Ein Beispiel ist der als Resteverwertung entwickelte Schmelzkäse mit variantenreichen Rezepturen. Das Militär forderte davon 1944 monatlich mehr als 700 Tonnen an.
Vielfache Pionierarbeit geleistet
Heilmannseder und Tischberger sind stolz darauf, in einigen Bereichen Pionierarbeit geleistet zu haben: Die Rolle der Landwirtschaft im NS-Regime wird in Bayern erstmalig thematisiert. Die Forschungsperspektive hört meistens auf der Kreisebene auf, „Butter, Vieh, Vernichtung“ zeigt eine Vielzahl an konkreten Beispielen aus den Dörfern auf. Der Ausschluss jüdischer Betriebe im Bereich der landwirtschaftlichen Produktion im ländlichen Raum wurde vorher kaum thematisiert. Die Zeichnungen von Paul Bermond und die Aufzeichnungen von Venanzio Gibillini geben ein ungewöhnlich genaues Bild vom KZ-Alltag.
Die Ausstellung ist bis zum 9. November geöffnet: Di. bis Fr. von 12 bis 18 Uhr, am Sa. und So. von 11 bis 18 Uhr. Der Eintritt ist frei. Weitere Informationen und Einzelheiten zum Begleitprogramm gibt es unter butterviehvernichtung.de.
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