Ihre Mutter wurde nach Kempten deportiert. Maria Tchorzewska sucht nach Spuren

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Maria Tchorzewska (l.) im Gespräch mit Dr. Veronika Heilmanns­eder. © Susanne Lüderitz

Maria Tchorzewska besucht das Stadtarchiv, um mehr über die Geschichte ihrer Mutter und ihrer Tanten zu erfahren. Sie wurden während des Zweiten Weltkriegs als Zwangsarbeiterinnen verschleppt. Der Krieg prägte nicht nur das Leben von Tchorzews­kas Mutter, sondern auch ihr eigenes.

Kempten – „Es fühlt sich sehr, sehr seltsam an, hier zu sein“, sagt Maria Tchorzewska. Ihre Mutter habe ungern über die Zwangsarbeit gesprochen und den Namen „Kempten“ nie erwähnt. „Wahrscheinlich war sie zu traumatisiert“, vermutet sie. Erst nach dem Tod der Mutter habe ihre Tante Waclawa mehr über diese Zeit erzählt.

Zu dritt waren die Schwestern Stefania, Waclawa und Marias Mutter Maria Marcolla im Oktober 1944 aus Warschau nach Kempten deportiert worden. Stefania, die älteste war 19. Waclawa als jüngste war 14. Die Kämpfer des Warschauer Aufstandes hatten am 2. Oktober kapituliert. Die Nationalsozialisten terrorisierten die Bevölkerung nun noch stärker und verschleppten zahllose Arbeitskräfte.

Umstände der Verschleppung

„‚Steht auf, sie kommen‘“, sagte meine Großmutter zu ihren Töchtern. Sie musste gewusst haben, was kommt.“ Tchorzewska beschreibt dem Ethnologen Roman Tischberger und Dr. Veronika Heilmannseder, beide vom Kulturamt Kempten die Umstände der Verschleppung. „Meine Großmutter hat den Schwestern die Haare geschnitten, sie mit Besteck, Tassen und Metalltellern ausgerüstet und dafür gesorgt, dass sie warme Mäntel trugen, obwohl es ein warmer Tag war.“ Dass die Frau richtig gehandelt hatte, zeigte sich im Durchgangslager Pruszków zehn Kilometer südwestlich der Warschauer Stadtgrenze. Dort verbrachte die Familie eine Nacht, bevor sie getrennt wurde: „Es gibt Fotos von dort, auf denen Menschen versuchen, Suppe aus Lampenschirmen zu löffeln“, erzählt Maria mit weit aufgerissenen Augen. Die Deutschen selektierten die drei jungen Frauen für die Arbeit. Die älteren warfen sie auf einem Feld aus dem Zug.

Vom Alltag im Kemptener Lager weiß Tchorzewska wenig, sagt sie. „Stefania arbeitete auf den Gleisen. Die beiden anderen schälten Gemüse für die deutschen Arbeiter.“ Für 18 Stunden Arbeit am Tag bekamen die Zwangsarbeiter zwei Mahlzeiten, für zwölf Stunden eine. Unter den Kindern habe es täglich Tote gegeben.

Die Bedingungen im Lager

„Irgendwie haben es die drei Schwestern geschafft, eine Person zu bezahlen, die ihnen aus einer mitgebrachten Decke warme Hosen genäht hat“, wundert sich Tchorzews­ka und erinnert eine Geschichte, die sie von ihrer Mutter und ihrer Tante gehört habe: „Das Camp wurde oft bombardiert. Dann sind alle über die Gleise und die Felder in den Wald gelaufen. Unter einem Baum haben sie sich getroffen.“ Ihre Mutter hatte eine Narbe, weil sie im Lauf einmal hingefallen und ihr Knie schlimm verletzt hatte. Das Penicillin der eintreffenden Amerikaner habe wohl eine Amputation verhindert.

Roman Tischberger hat grüne, rosafarbene und weiß-vergilbte Dokumente auf einem Tisch im Stadtarchiv ausgebreitet. Die Arbeitskarten der drei Frauen tragen den Stempel: „Reichsbahn-Ausländer-Lager Kempten/Allg., Eicherstraße 3“. Es ist aber nicht sicher, ob Maria, Waclawa und Stefania hier nur gearbeitet oder auch geschlafen haben, erklärt Heilmannseder. In Kempten gab es mehrere Lager. Südlich des KZ-Außenlagers betrieb die Stadt seit 1943 zusammen mit einigen Unternehmen das sogenannte „Ostarbeiterlager“. Dort waren Menschen aus Polen, Russland und der Ukraine untergebracht, die schlechter behandelt wurden als Westeuropäer.

Auf einer Schwarz-Weiß-Luft-Aufnahme zeichnet Heilmanns­eder die Strecke nach, die die Schwestern auf der Flucht vor den Bomben in den Wald genommen haben konnten. Das Lager sei einigen Berichten zufolge überfüllt gewesen und die Arbeiter hätten möglicherweise ohne fließend Wasser und Strom zurechtkommen müssen. Die Betroffenheit in Maria Tchorzewskas Gesicht weicht Überraschung, als sie hört, dass Stefania im Lager auch als technische Zeichnerin gearbeitet hat und die drei Frauen über das Durchgangslager Wörgl eingereist waren. Erstaunt zeigt sie sich darüber, dass im Lager auch Kinder auf die Welt kamen und dass die Zwangsarbeiter über ein kleines Einkommen verfügten, mit dem sie auf dem Schwarzmarkt einkaufen konnten.

Tchorzewska ist 69 Jahre alt und lebt heute in Ipswich in England. Geboren und aufgewachsen ist sie in London, wohin es die Eltern nach dem Krieg wie viele Polen verschlagen hatte. Die beiden lernten sich dort kennen und heirateten 1953. Der Vater, ein polnischer Offizier, war während des Kriegs im Offiziersgefangenenlager in Murnau interniert. „Sie alle waren vom Krieg und der jahrelangen Besatzungszeit gezeichnet. Meine Mutter hatte künstliche Zähne, schlimmes Alzheimer, zweimal Krebs. Sie war nicht sehr groß, wahrscheinlich durch die Mangelernährung in der Kindheit“, erzählt Tchorzewska, „die ganze Generation litt unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, weil der Krieg ihr Leben auseinandergerissen hat. Die Nazi-Besatzung bedeutete Terror ohne Unterlass.“

Aus der Geschichte lernen

Die Vergangenheit der Eltern beeinflusst auch Maria Tchorzewskas Weg. In ihrer Kindheit sei das Geld immer knapp. Die polnische Community und die Bräuche waren von großer Bedeutung. Zu Hause sprach die Familie Polnisch. Alle arbeiteten und lernten hart. „Meine Eltern mussten sich eine neue Sprache aneignen. Das Leben in unserem neuen Land musste gelingen“, erzählt sie.

Ihr Mann Kazimierz ist mit nach Kempten gekommen. Seine Eltern wurden mit Viehtransportern aus Polen nach Sibirien gebracht, als sie Kinder waren. Beide – Kazimierz und Maria wünschen sich, dass die Menschen aus ihren Fehlern und der Geschichte lernen.

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