Schweigen und Verdrängen waren gestern, viele Familien blicken neuerdings mit Neugier und offenem Interesse auf die Geschichte ihrer Vorfahren in der NS-Zeit. Der Kreisbote sprach mit Roman Tischberger über die Hintergründe und seine Erfahrungen als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Butter, Vieh, Vernichtung“.
Kempten – Der 38-jährige Roman Tischberger hat in Augsburg Europäische Ethnologie/Volkskunde, Soziologie und Politikwissenschaften studiert. Seine an der gleichen Universität erstellte Promotionsarbeit steht kurz vor der Veröffentlichung.
Herr Tischberger, „wenn man nur weit genug zurückgeht, hat jede Familie schreckliche Dinge getan“, schreibt Anna Hope in ihrem gerade erschienenen Roman. In Deutschland scheint es zurzeit ein nie da gewesenes Interesse daran zu entstehen, nach diesen Dingen in der eigenen Familiengeschichte zu suchen. Menschen stürmen regelrecht die Archive, um mehr über das Verhalten ihrer Groß- oder Urgroßeltern in der NS-Zeit zu erfahren. Wie erklären Sie dieses Phänomen?
Tischberger: Dass sich Menschen mit ihrer Familiengeschichte beschäftigen, kann durchaus mit medialer Aufmerksamkeit zusammenhängen, auch die Erinnerung an das Kriegsende vor 80 Jahren kann ein Anlass sein. Darüber hinaus sind es oft auch ganz konkrete Erfahrungen von Geschichte und Vergänglichkeit: Ältere Verwandte sterben, ihr Nachlass wird gesichtet – und häufig stellen dabei Dokumente aus einer vergangenen Zeit die Menschen in der Gegenwart vor unterschiedliche Fragen. Etwa: Welche weiteren Facetten hatten meine Vorfahren, die ich vielleicht nur im privaten und persönlichen Umgang kennen gelernt habe? Fotografien, Ausweise oder vermeintlich banaler Schriftverkehr können solche Fragen anstoßen.
Können Sie diesen Trend auch für das Allgäu bestätigen? Haben Sie in Ihrer Arbeit beim Projekt „Butter, Vieh, Vernichtung“ ähnliche Erfahrungen gemacht?
Tischberger: Ein Ziel des Projekts „Butter, Vieh, Vernichtung – Nationalsozialismus und Landwirtschaft im Allgäu“ ist es, zur Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte der Region, speziell auf dem Land, anzuregen. Die eigene Familiengeschichte ist für viele das naheliegende Forschungsfeld. Wir erleben in unseren Workshop-Angeboten, in Zuschriften oder in Gesprächen, dass daran hohes Interesse besteht, zum Teil in beachtlicher Detailtiefe. Es reicht von anekdotischem Wissen oder Familienerzählungen über Kriegserfahrungen oder Kontakt mit Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, bis hin zu umfangreichen Dokumentationen, für die tiefgehende Archivrecherchen nötig sind. Das Gute: Es braucht nur einen kleinen Anstoß des Interesses und eine Portion Neugier, um den entstehenden Fragezeichen nachzugehen.
Können Sie ein paar Beispiele aus dem Projekt nennen?
Tischberger: Ich habe mehrmals mit einer Frau aus Simmerberg gesprochen, deren Mutter in einem Gartenbaubetrieb mit einem polnischen Zwangsarbeiter zusammengearbeitet hatte und von einer verbotenen Beziehung zwischen beiden wusste. Sie kannte den Namen des Zwangsarbeiters und wusste von einer Emigration in die USA. Mit diesen Hinweisen konnten wir die Geschichte der Auswanderung in groben Zügen rekonstruieren und weitere Archive identifizieren, in denen die Recherche fortgesetzt werden könnte.
Häufig werden die positiven Geschichten weitergegeben, an die man sich gerne erinnert. Das sind oft Fälle von Nachkriegskontakten quer durch Europa. Dabei haben nach Jahrzehnten deutsche Familien Briefe mit den Menschen geschrieben, die auf ihren Höfen zur Zwangsarbeit eingesetzt waren, zum Teil gab es auch gegenseitige Besuche. Solche Geschichten gibt es im gesamten Allgäu.
Ein anderes Beispiel ist die außergewöhnliche Sammlung von Feldpostbriefen einer Familie aus Unterthingau. Nicht nur sind etwa 1.600 Briefe erhalten, ein Nachfahre hat die Dokumente systematisch geordnet und erfasst. Eine kleine Auswahl werden wir auch in unserer Ausstellung zeigen.
Gibt es bei Ihnen eine persönliche Motivation dafür, dass Sie sich gerade für die Forschung der NS-Geschichte entschieden haben?
Tischberger: Meine Großväter habe ich leider nie kennen gelernt und konnte sie nicht befragen. So war ich auf die Erzählungen meiner Eltern angewiesen, um über den familiären Platz in der Geschichte zu erfahren. Doch mein Wissenswunsch stieß schnell an Grenzen, denn es zeigte sich ein typisches Bild: Die Großväter hätten nicht viel darüber gesprochen, wenige Anekdoten sind überliefert: Wehrmacht, Kriegsgefangenschaft, Heimkehr, körperliche und psychische Verwundungen. Die Einstellung zur nationalsozialistischen Ideologie, Teilhabe an der „Volksgemeinschaft“? Unklar. Gerade diese Fragmente waren es aber, die mich neugierig gemacht haben, genauer wissen zu wollen, wie das System aufgebaut war und wie sich der Nationalsozialismus so flächendeckend in der Gesellschaft hat festsetzen können. Was hat die Menschen daran fasziniert und wie sah das Leben in diesem politisch-ideologischen Rahmen aus?
Für die jüngere europäische Geschichte und insbesondere die deutsche Gesellschaft ist die Zeit des Nationalsozialismus das extreme und mahnende Beispiel, wie eine Partei das politische System und die Verwaltung zielgerichtet zu einer Diktatur umbaut, Frieden und Freiheit angreift und unsagbares Leid über Millionen Menschen bringt. Die Geschichte der meisten Familien, die auf dem Kontinent leben, haben eigenen Bezug zu der Zeit, unsere Vorfahren waren Teil der damaligen Gesellschaft. Und auch alle, die nach dem Krieg nach Europa kamen, müssen dieses Kapitel der Geschichte kennen, damit ein „Nie wieder!“ nachhaltig gelingen kann. Geschichtsvergessenheit ist ein Einfallstor für diejenigen, die die Demokratie angreifen.
Wenn jemand vorhat, Nachforschungen über die Familiengeschichte in der NS-Zeit zu betreiben, wie fängt man am besten an?
Tischberger: Mit Familienmitgliedern sprechen. Viel Wissen zirkuliert mündlich in den Familiengedächtnissen. Zwar oft nur bruchstückhaft, aber es lohnt sich, diese Puzzleteile zu dokumentieren, um so ein erstes Bild zu erhalten. Auch aus erhaltenen Dokumenten oder (Feldpost-)Briefen lassen sich biografische Fixpunkte ersehen, die Anlass für weitere Forschungen sein können. Hat man diese Informationen aus dem privaten Umfeld beisammen, geht es bei den öffentlichen Archiven weiter.
Sind beispielsweise NSDAP-Mitgliedschaften bekannt, können die Akten der Entnazifizierungsverfahren, den sogenannten Spruchkammern, eine mögliche Quelle sein. Darin finden sich oft gebündelt biografische Informationen, zum Teil auch zu Protokoll gegebene Aussagen. Welche Spruchkammer zuständig war, hängt vom damaligen Wohnort der Person ab, über die geforscht wird. Die archivierten Dokumente dazu liegen in den Staatsarchiven.
Bei bekannten Wehrmachts-Mitgliedschaften bietet sich eine Anfrage bei den Bundesarchiven an, für Kriegsgefangenschaften auch der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes. Für diese Recherche-Services gilt: die Anfrage gut vorbereiten – Je mehr Information vorhanden ist, desto zielführender können die Archivarinnen und Archivare suchen – und Geduld mitbringen, es kann mehrere Monate dauern, bis Anfragen bearbeitet werden.
Erste Informationen über Verfolgte des NS-Regimes finden sich in der Datenbank der Arolsen Archives, die sich aus den Datensammlungen der Militärverwaltungen nach Kriegsende speisen und so einen breiten Wissensspeicher abbilden, der sogar online durchsucht werden kann.
Ergeben sich aus diesen „großen“ Recherchen Hinweise zu verdichteten Stationen, lohnt eine Anfrage bei kommunalen Archiven der Gemeinde oder Stadt. Nicht alle Gemeindearchive haben eine reichhaltige Überlieferung, aber die betreuenden Personen helfen gerne weiter und wissen meist schnell, wo man weitersuchen könnte –falls kein Bestand überliefert ist.
Auch spezialisierte Archive, wie beispielsweise das Bayerische Wirtschaftsarchiv zu IHK-Betrieben oder das Bezirksarchiv Schwaben für Recherchen zu Patientenakten der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren können bei eindeutigen Hinweisen weitere Quellen archiviert haben.
Auch hier ist wichtig: Je konkreter die bestehenden Informationen, desto zielführender kann geholfen werden. Bloße Anfragen nach Namen sind meist zu unkonkret. Geburtsdaten, Ortschaften und weitere, im besten Fall datierte, Belege zur Anfrage sind äußerst hilfreich.
Welche Schwierigkeiten könnten auftreten, wo kann man eventuell Unterstützung bekommen?
Tischberger: Man benötigt Geduld und mitunter Glück, dass einschlägige Archivalien dort überliefert sind, wo sie sein müssten. In den letzten Wochen des Krieges sind zahllose Dokumente vernichtet worden, somit ist der Umgang mit Lücken Teil der Recherche. Ebenso werden auch familiäre Dachböden ausgeräumt und aussortiert. Das heißt: Nicht jede Suche führt zu einem erfolgreichen Ergebnis. Dann ist Kreativität und Ums-Eck-Denken gefragt: Welche möglichen Schriftgutbestände könnten zur Fragestellung gebildet worden sein? Krankenakten, Gerichtsakten oder Verwaltungsakten öffentlicher Behörden kommen hier etwa infrage. Was war die Institution, von der die Dokumente ausgingen – und welches Archiv verwahrt sie heute? Je tiefer man gräbt, desto mehr offenbaren sich weit verzweigte Möglichkeiten der Recherche. Und hier braucht es wiederum den langen Atem.
Unterstützung bieten neben einigen Webseiten zum Thema Familienforschung auch Vereine, wie der Bayerische Landesverein für Familienkunde, der immer wieder Veranstaltungen anbietet. Aber auch in den lokalen Heimatvereinen sind oftmals kundige Personen, die mit den örtlichen Überlieferungen vertraut sind und sicherlich den einen oder anderen Tipp parat haben.
Stephan Lebert und Louis Lewitan schreiben in ihrem gerade erschienenen großartigen Buch „Der blinde Fleck“ (Heyne, 2025), dass die Entdeckungen in der Vergangenheit „das Zeug haben, die Gegenwart zu sprengen“ und dass man darauf achten sollte, nicht von der Familiengeschichte „aufgefressen zu werden“. Machen Sie derartige Erfahrungen?
Tischberger: Ich kann gut nachvollziehen, dass die Beschäftigung mit NS-Geschichte eine starke historische und emotionale Kraft entfalten kann. Vermeintliche Widersprüchlichkeiten bei Familienmitgliedern – etwa wenn liebevoll erinnerte Großväter als SS-Mitglieder oder als Beteiligte an Kriegsverbrechen belegt werden – können Familiengedächtnisse nachhaltig in Frage stellen. In der Projektrecherche waren wir regelmäßig mit bewegenden Archivfunden konfrontiert, besonders mit Gewalt gegen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, verdrängten und verfolgten jüdischen Menschen, Sinti und Roma, oder als krank angesehene Menschen, die als „lebensunwert“ galten und in Heilanstalten getötet oder vernachlässigt wurden. Nicht nur diese Beispiele, sondern besonders die Normalisierung von Rassismus, von Überheblichkeit und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, die in den Dokumenten steckt, macht fassungslos.
Andererseits schreiben Lebert und Lewitan: „Wer allerdings glaubt, der Vergangenheit davonrennen zu können, wird nicht selten von ihr eingeholt. Oder gar von ihr überholt und erschlagen.“ Wie weit kann die persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte befreiend wirken?
Tischberger: Ich bin überzeugt, dass Forschung, auch 80 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus, ein großer Gewinn ist. Oft heißt es, das sei so lange her, das solle man ruhen lassen. Dabei ist die NS-Zeit die große gesellschaftliche Zäsur, auf der das deutsche Grundgesetz und die Basis unseres demokratischen Zusammenlebens fußen. Es ist staatsbürgerliche Verantwortung, bei dieser Geschichte genau hinzusehen. In den politischen Strukturen und ihrer Ausbreitung bis in die Dörfer, genauso wie im kleineren Rahmen der eigenen Familien.
Denn in unserer Erinnerungskultur tut sich nun eine schmerzliche Lücke auf: Immer weniger Zeitzeugen leben, die ihre erlebte Erinnerung aus erster Hand berichten können. Gleichzeitig ist das auch eine große Chance, Hemmschwellen abzubauen. Sorgen, gewohnte Bilder von Familienmitgliedern durch Recherchen zu Lebzeiten zu irritieren, lassen sich reduzieren. Das Wissen-Wollen ist auf gänzlich neue Beine gestellt und auch die Archive sind sortierter, zugänglicher und in Teilen digital durchsuchbar. Auch daher kann man sagen, dass mit dem Verlust des Wissens aus erster Hand eine neue Verantwortung für uns alle einhergeht.
Umfragen bestätigen, dass junge Menschen großes Interesse haben an der Geschichte des Nationalsozialismus. Viele lehnen jedoch die eingespielten Rituale der Erinnerungskultur ab. Wie kann man mit dem Thema heute am besten junge Menschen erreichen? Welche Rolle kann eine zeitgemäß gestaltete Erinnerungskultur an der Bewahrung der Demokratie und einer politischen Kultur der Offenheit und Vielfalt übernehmen?
Tischberger: Erinnerungskultur und ihre Formen sind ja grundsätzlich wandlungsfähig und ergänzen förmlichere Gedenkveranstaltungen. Diese haben ihre Berechtigung – wie neue Formate auch. Medien wie Graphic Novels etwa haben durch ihren künstlerischen Zugang eine Qualität, Geschichte in der Gegenwart zu spüren. Gedenkstätten bieten neben ihren historischen Stätten vielfältige Veranstaltungsprogramme. Es müssen auch nicht immer große Erinnerungs-Events sein, denn gemeinsames Erinnern und Spurensuchen beginnt schon im Kleinen. Wie bei den partizipativen Formaten, wie wir sie im Projekt „Butter, Vieh, Vernichtung“ anbieten. Über Literatur, Musik oder künstlerisches Gestalten eröffnen sich neue Möglichkeiten, kreative Räume der Auseinandersetzung in Gemeinschaft zu schaffen.
Und darum geht es uns: Erinnerungsräume an eine Zeit schaffen, die einerseits immer weiter von unserer Gegenwart wegrückt, die andererseits aber elementar ist, für das Verständnis, für Demokratie und freie Entfaltung einzustehen. Damit das gelingen kann, braucht es vergemeinschaftende Formate, die Generationen und Kulturen im gemeinsamen Austausch und Erinnern verbinden – und die Neugierde, sich darauf einzulassen.
Projekt und Ausstellung
Das Projekt „Butter, Vieh, Vernichtung – Nationalsozialismus und Landwirtschaft im Allgäu“ von Cultura Kulturveranstaltungen e.V. und der Stadt Kempten (Allgäu) wird in der Bildungsagenda NS-Unrecht von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) gefördert.
Das Projekt umfasst künstlerische Workshops und öffentliche Veranstaltungen sowie die wissenschaftlich recherchierte Ausstellung „Butter, Vieh, Vernichtung – Nationalsozialismus und Landwirtschaft im Allgäu“. Die Ausstellung wird von 19. September bis 9. November in der Kälberhalle, auf dem Gelände der Allgäu-Halle, in Kempten zu sehen sein.
Auszug aus dem Veranstaltungsprogramm:
27.9.: Schreibworkshop „Geschichte(n) zum Leben erwecken“, mit Autor Volker Klüpfel;
10.10.: Podiumsgespräch „Erinnerungskultur wohin?“, mit dem Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Dr. Jens Christian Wagner, und Projektinitiatorin Dr. Veronika Heilmannseder.
Weitere Termine und Workshops mit Anmeldung sowie Informationen zu Ausstellung und Projekt unter https://www.butterviehvernichtung.de
Feste, Konzerte, Ausstellungen: Was man in Kempten und Umgebung unternehmen kann, lesen Sie im Veranstaltungskalender.
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