Kultur- und Forschungsprojekt „Butter, Vieh, Vernichtung – Nationalsozialismus und Landwirtschaft im Allgäu“
„Es ist ein historischer Schritt für Kempten, was hier passiert“, sagte Dr. Christine Müller Horn, Leiterin des Kempten-Museums bei der Vorstellung von „Butter, Vieh und Vernichtung“ in der Kälberhalle. In dieser und in der benachbarten Tierzuchthalle war zwischen 1943 und 1945 ein Außenlager des KZ Dachau untergebracht.
Kempten/Allgäu – „Die Gedenktafel an der Tierzuchthalle entstand auf Initiative der ehemaligen Häftlinge und nicht der Stadt“, hob Müller Horn hervor. Deswegen sei es historisch, dass jetzt die Stadt sich dafür einsetze, diesen authentischen Ort in einen Erinnerungsort umzugestalten. „Das berührt mich“, so die Museumsleiterin. „Diese Halle, in der jetzt Flohmärkte stattfinden, ist ein Schatz für uns, den wir nutzen wollen“, fügte sie hinzu.
Eine andere Stärke dieses Projekts sei, dass es die Öffentlichkeit aktiv einbeziehe, stellte Müller Horn fest. Während die Kommission für Erinnerungskultur noch hinter verschlossenen Türen arbeite und gerade damit anfange, die Ergebnisse nach außen zu präsentieren, habe man „Butter, Vieh und Vernichtung“ von Anfang an sehr offen konzipiert.
Dr. Theo Waigel hat Schirmherrschaft für „Butter, Vieh, Vernichtung“ übernommen
Die Projektträger sind der Verein „Cultura Kulturveranstaltungen“ und die Stadt Kempten, die eng mit dem Heimatverein zusammenarbeiten. Die Schirmherrschaft hat Dr. Theo Waigel, Bundesfinanzminister a. D., übernommen. „Ein Demokrat und Europäer“, betonte Dr. Veronika Heilmannseder, Historikerin und Erste Vorsitzende des Vereins „Cultura Kulturveranstaltungen“. Das Projekt ist zeitlich begrenzt, es läuft bis Ende 2025.
Gefördert und fachlich unterstützt wird „Butter, Vieh und Vernichtung“ von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ), im Rahmen des Förderprogramms „Bildungsagenda NS-Unrecht“, das das Bundesministeriums der Finanzen finanziert. Das EVZ entstand 2000 als Ergebnis einer gesellschaftlichen Debatte über die Entschädigung von Zwangsarbeitern. Die etwa 26 Millionen Menschen, die im Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten zum Arbeitseinsatz gezwungen waren, gehörten vorher lange zu den „vergessenen Opfern“ des Nationalsozialismus.
Sonja Begalke, Fachreferentin der Stiftung für den Förderschwerpunkt „Lernen in kulturellen Räumen“, wies darauf hin, dass der Diskurs erst nach dem Mauerfall möglich war, weil die meisten Opfer auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs lebten. Schließlich haben 1,65 Millionen einen Antrag auf Entschädigung gestellt.
Mehr als 13 Millionen ausländische Menschen wurden ins Gebiet des ehemaligen Deutschen Reichs zur Zwangsarbeit verschleppt. „Sie waren überall sichtbar“, betonte Begalke. Eingesetzt hatte man sie nicht nur in Bergwerken, in der Industrie und in Lagern, sondern auch auf Bauernhöfen, in Kirchengemeinden und Privathaushalten. Also auch im ländlichen Raum, der im Fokus dieses Projekts steht.
Dokumente und Fotos gesucht
Man habe wenige Bilder über Zwangsarbeiter im Allgäu, berichtete Heilmannseder. Deswegen ist der Aufruf an Zeitzeugen und ihre Nachfahren fester Bestandteil des Projekts: Wer Dokumente und Fotos hat oder Geschichten zur Zwangsarbeit auf den Bauernhöfen oder in landwirtschaftlichen Produktionsbetrieben im Allgäu kennt, soll sich bitte beim Projektteam melden (Kontakt: christine.muellerhorn@kempten.de oder Tel. 0831/2525-1720).
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„Geschichte liegt auf Dachböden, in Kellern, in Familienalben, bevor sie in den Archiven landet“, sagte Begalke. Zu den wenigen überlieferten Bildern gehört das Aquarell „Ukrainerin, eingesetzt im Grünland-Käseschmelzwerk Kempten 1944“, das im Stadtarchiv Kempten entdeckt wurde. Wer hinter dem Signum „Dietrich“ steckt und aus welchem Anlass das Bild entstanden ist, weiß man heute noch nicht. Das verpflichtende Abzeichen „Ost“ ist auf der Bluse zu sehen. Diese Frau habe Glück gehabt, sagte Heilmannseder. Viele andere Zwangsarbeiter hatten keine hinreichende Kleidung für die Allgäuer Wetterverhältnisse.
Führungen durch die Allgäu-Halle, wo einst ein KZ-Außenlager untergebracht war
Von Müller Horn ins Gespräch gebracht wurden die Zeichnungen aus dem Album von Paul Wernet, die 2020 unter dem Titel „Souvenirs de captivité“ in der Schriftenreihe des Kempten-Museums herausgegeben wurden, mit den wissenschaftlichen Kommentaren von Markus Naumann. Er hält weiterhin Kontakt zu dem über 100-jährigen Wernet. Bei der Aufarbeitung der Geschichte des KZ-Außenlagers Kempten hat der Vorsitzende des Heimatvereins Pionierarbeit geleistet. Im Rahmen des aktuellen Projekts wird er Führungen durch die Allgäu-Halle anbieten.
„Das NS-Zwangsarbeitssystem erfüllte nicht nur einen wirtschaftlichen Zweck. Es war zugleich Instrument zur Verfolgung, Ausgrenzung und Unterdrückung gerade jener Gruppen, die von den Nationalsozialisten als ‚minderwertig‘ betrachtet wurden. Kurz: „Die NS-Zwangsarbeit war Tat gewordene Rassenideologie“, sagte Begalke.
Die Fachreferentin betonte auch, dass der Stiftung elementar wichtig sei, alle Opfergruppen einzubeziehen, von Jüdinnen und Juden bis zu den geraubten Kindern, von den Sintizze und Romnja bis zu politisch, religiös und als „asozial“ Verfolgten, von Menschen mit Behinderung bis zu den Zwangsarbeitern, von den wegen ihrer sexuellen Orientierung Verfolgten bis zu den zivilen Opfern der deutschen Besatzungspolitik.
Das sind die Ziele des Projekts „Butter, Vieh, Vernichtung“
Wissen vermitteln, Empathie ermöglichen, das unmittelbar „vor der eigenen Tür“ geschehene Unrecht begreifbar zu machen, beispielhaft Biografien von Zwangsarbeitern, aber auch von jüdischen Händlern zu beleuchten, gehörten zu den Zielsetzungen des Projekts. „Jedem ein Gesicht zu geben, schaffen wir nicht“, sagte Heilmannseder. Aber sie wollten Erinnerungsräume schaffen, in denen die Menschen ermutigt werden, sich mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen.
Ihr sei es wichtig, nicht nur in der Stadt zu bleiben, sondern auch den ländlichen Raum einzubeziehen. Wie hat das Regime die Zustimmung der Bevölkerung bekommen? Wie konnte man erreichen, dass die Menschen Zwangsarbeit für gut gehalten haben? Wie funktionierte der NS-Staat? Das sind in dem Projekt wichtige Fragestellungen.
Die Verbindung zum Heute
Aber immer präsent soll auch der Bezug zur Gegenwart sein: „Was bedeutet das für die demokratische Gesellschaft der Gegenwart?“, fragte die Historikerin und fügte hinzu: „Bis heute stehen wir in Europa auf Fundamenten, die uns nicht bewusst sind.“
Oberbürgermeister Thomas Kiechle betonte, wie wichtig es sei, zwischen den Erfahrungen der Vergangenheit und den Herausforderungen der Gegenwart eine Verbindung zu schaffen. Er lobte die Arbeit der Kommission für Erinnerungskultur und hob die Bedeutung des Beitrags des Instituts für Zeitgeschichte und speziell von Prof. Martina Steber hervor. In dem Prozess seit 2021 habe die Stadt Kempten zur eigenen NS-Geschichte „einen neuen Zugang gefunden“.
Deutliche Worte zu diesem Thema fand Begalke: „Wie stark die Kontinuitäten der NS-Ideologie auch nach 1945 bis heute das gesellschaftliche Klima beeinflussen, haben uns vor allem die letzten Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg vor Augen geführt. Rechtsextreme Gruppen und Parteien knüpfen ganz bewusst an die menschenverachtende NS-Ideologie von Antisemitismus und Rassismus an und erteilen einer kritischen Erinnerungskultur an das NS-Unrecht und demokratischen Werten eine klare Absage. Das erfüllt uns als Stiftung mit großer Sorge.“ Sie begrüße, dass die Projektpartner aus Kempten mit der EVZ gemeinsam gegen diese Strömungen vorgehen würden und sich für die Demokratie engagierten.
Auf die Zielgruppe Jugend wollen die Organisationen besonders intensiv zugehen. Begalkes Fragestellung ist ein zentraler Auftrag für das gesamte Projekt: „Wie gelingt uns, trotz Radikalisierungen, die leidvollen Erfahrungen einer Generation, die jetzt abtritt, in die Zukunft zu tragen?“
Kulturelle Workshops an verschiedenen Orten
Die Fachreferentin der Stiftung verriet, dass bei der Entscheidung für Kempten der künstlerische Ansatz des Vorhabens eine zentrale Rolle gespielt habe. An den vier Erinnerungsorten (Bahnhof Fellheim, Milchsammelstelle Thal, Kälberhalle und Kempten-Museum) werden künstlerische Workshops (alle kostenfrei) angeboten, zu denen Menschen unterschiedlichen Alters aus dem gesamten Allgäu eingeladen werden. Die Gesamtkoordination übernimmt Laura Cadio.
Den Workshop Musik leitet Christian Ludwig Mayer. „Musik schafft wie keine andere Kunst einen besonders direkten und erlebbaren Zugang zu Zeitgeist und Gefühlswelten anderer Epochen bzw. Kulturen. Sie ist daneben für mich einer der stärksten Empathieauslöser überhaupt“, schreibt er.
Die Leitung des Workshops Theater übernimmt Crescentia Dünßer. „Sich erinnern heißt auch Verantwortung übernehmen.“ Ihre Fragestellungen sind: „Woher kommen wir? Wer sind wir? Wer wollen wir sein?“ Armin Smailovic erstellte bereits einige Fotografien von den Nachfahren von Verfolgten (s. im Hintergrund des oberen Bildes). Er leitet den Workshop Fotografie am 16. und 17. November in Fellheim. Für die Veranstaltung im Bereich Bildender Kunst ist Reiner Schlecker verantwortlich.
Die künstlerische Auseinandersetzung wird mit einer historischen Forschungsarbeit verbunden:
Gleichzeitig laufen historische Forschungen
Roman Tischberger, der gerade an der Universität Augsburg promoviert, begann in den Archiven in Augsburg und Kempten nach einschlägigen Dokumenten zu suchen. Erweitern wird er seine Tätigkeit auf das ganze Allgäu und Schwaben. Außerdem gehört der Austausch mit Vereinen, Historikern und Zeitzeugen zu seinen Aufgaben.
Finale Ausstellung ab September 2025
Das Finale soll eine Ausstellung in der Kälberhalle ab September 2025 einläuten. In dieser von Heilmannseder, Müller Horn und Tischberger kuratierten Schau werden die Ergebnisse der Forschung und Impressionen aus den Workshops präsentiert. Alle Beteiligten hoffen darauf, dass sich aus dieser Ausstellung eine nachhaltige, dauerhafte Etablierung der Kälberhalle als Erinnerungsort in Kempten entwickelt.
Für das Projekt wurde eine eigene Webseite (www.butterviehvernichtung.de) eingerichtet.
Feste, Konzerte, Ausstellungen: Was man in Kempten und Umgebung unternehmen kann, lesen Sie im Veranstaltungskalender.
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