Otto Merkt und der Nationalsozialismus: Katrin Holly fasst in Kempten die Ergebnisse der aktuellen Forschung zusammen
Das lange Warten hat ein Ende: Die 2011 eingerichtete Kommission für Erinnerungskultur beginnt, die Ergebnisse ihrer Arbeit der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Vortrag von Katrin Holly über eine der umstrittensten Figuren der NS-Zeit in Kempten und Schwaben, Oberbürgermeister Dr. Otto Merkt, hat bereits gezeigt: Es hat sich gelohnt, auf die Resultate von gründlicher Recherchearbeit zu warten.
Kempten – In der Ausschreibung der Veranstaltung war noch ein Doppelvortrag angekündigt, aber Dr. Herbert Müller ist im September völlig unerwartet gestorben, wie die beiden Veranstalter des Bewegten Donnerstags, Kulturamtsleiter Martin Fink und Heimatverein-Vorsitzender Markus Naumann mitteilten. Müllers 1986 angenommene und 1988 veröffentlichte Dissertation „Parteien- oder Verwaltungsherrschaft?“ über die Kommunalpolitik der Stadt Kempten zwischen 1929 und 1953 war eine Pionierarbeit, betonte Naumann. Und die von ihm verfassten Kapitel in der 1989 herausgegebenen „Geschichte der Stadt Kempten“ gelten weiterhin als Standardwerk zur Zeit der Weimarer Republik und der NS-Diktatur. In seinen Werken finde man verstreut viele Informationen über Merkt, vor allem in seinen unzähligen Fußnoten, erzählte der Vorsitzende des Heimatvereins, in dem Müller jahrzehntelang Mitglied war.
Holly, freiberufliche Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Bezirksheimatpflege Schwaben, veröffentlichte bereits zahlreiche Studien zur Geschichte bayerischer Kommunen im 20. Jahrhundert. Ihr im Auftrag der Kommission erstelltes Gutachten über Merkt umfasst knapp 80 Seiten und wird in der diesjährigen Ausgabe des „Allgäuer Geschichtsfreunds“ in voller Länge abgedruckt. An diesem Abend gab die renommierte Historikerin eine kleine Kostprobe davon und konzentrierte sich auf ein paar ausgewählte Themen.
Merkts Verdienste für das Allgäu und Kempten
Merkts Ziel, Kempten als Hauptzentrum im Allgäu zu etablieren, sei erfolgreich gewesen, betonte Holly in ihrer Einführung. Er förderte beispielsweise die Milch- und Viehwirtschaft oder gründete das AÜW. Viele Institutionen und Vereine gehen auf seine Initiative zurück, wie die Heimatpflege oder das Heimatmuseum. Der unverheiratete Mann spendete immer wieder aus seinem Privatvermögen für Projekte in Kempten. Seine Zeitgenossen beschreiben ihn als Respektsperson, die ein offenes Ohr für menschliche Nöte hatte.
Quellen, Forschungen, Forschungslücken
Das nach dem Krieg vorherrschende Narrativ über Merkt basierte größtenteils auf seinen während des Entnazifizierungsverfahrens aufgebauten Verteidigungsschriften und auf selektiv verwendeten Dokumenten aus seinem umfangreichen, von ihm selbst zusammengestellten Nachlass.
Holly geht zwei derartigen „Erzählungen“ auf die Spur: Es wurde erzählt, dass seine Verhaftungen und Amtsenthebungen während der Machtergreifungsphase 1933 damit zu tun hätten, dass er kein Nationalsozialist gewesen sei. Und sein Festhalten an seinem Amt, sein Parteibeitritt und seine NS-Ämter wären auf seine Absicht zurückzuführen, einen unqualifizierten NS-Funktionär zu verhindern. In Wahrheit stimmte er mit den Inhalten der nationalsozialistischen Ideologie überein. Sein Amt konnte er wegen seiner guten Kontakte zu NS-Größen wie Hermann Esser und Ludwig Siebert behalten und weil die Machthaber seine fachliche Kompetenz und seine Beliebtheit für die Stabilisierung ihrer Herrschaft gut gebrauchen konnten. Die Turbulenzen waren darauf zurückzuführen, dass er beim Machtkampf, den NSDAP und SA austrugen, zwischen die Fronten geraten war. Holly bezieht sich auf die Schriften von Müller und Prof. Martina Steber („Ethnische Gewissheiten“) sowie auf ihre stichprobenartigen Recherchen.
Was führte zu Merkts Zwangspensionierung 1942?
Ebenfalls auf den unkritischen Umgang mit den oben genannten Quellen zurückzuführen sind Interpretationen, die seine zahlreichen Konfrontationen mit Behörden sowie NS-Funktionären und schließlich seine Zwangspensionierung 1942 als Zeichen von Widerstand oder sogar als Folge seines Engagements für jüdische Mitbürger deuten. Holly weist nach, dass die Konflikte durch Merkts Amtsverständnis und seinen Politikstil bedingt waren. In seiner politischen Arbeit hatte die Interessenvertretung der Stadt Kempten, des Allgäus und Schwabens klar die Priorität. Er sah sich als „Meister der Bürger“ und wollte über lokale Vorhaben möglichst selbst entscheiden. Wenn es Widerstände gab, griff er auf sein umfangreiches Netzwerk zurück. Und wenn dies auch nicht half, wählte er die direkte Konfrontation. „Aushandlungsprozesse waren nicht seine Welt“, stellte die Historikerin fest.
Meine news
Was in der Zeit der Weimarer Republik gut funktionierte, gestaltete sich in der NS-Zeit immer schwieriger. Die Position des Bürgermeisters wurde zwar 1935 de iure gestärkt, aber de facto hatten NSDAP, staatliche Institutionen und eine Reihe neuartiger Machtformationen seinen Entscheidungsspielraum stark eingeschränkt, die wahren Machtstrukturen blieben hierbei oft unübersichtlich. Ab 1939 verlor Merkt allmählich die Unterstützung von Gauleiter Karl Wahl. Als der Oberbürgermeister sich 1942 in der Frage der Wohnungsbaupolitik und dem damit zusammenhängenden Wunsch, Sankt Mang einzugemeinden, öffentlich gegen die Parteilinie stellte, riss der Faden endgültig. Merkt hatte seine Macht über- und die der Partei unterschätzt: Ein willkommener Anlass für Wahl, ihn in den Ruhestand zu versetzen. Das war nicht nur deswegen möglich, weil der Gauleiter als Regierungspräsident dazu berechtigt war, sondern auch weil Merkt „inzwischen entbehrlich war“.
Weiterhin große Forschungslücken
„Wirklich untersucht ist Merkts Kommunalpolitik nicht“, betonte die Historikerin. Große Hoffnungen setzt man in die dazu vom Institut für Zeitgeschichte in Auftrag gegebene Studie, die gerade erstellt wird. Um keine unerfüllbaren Erwartungen in diese größere Studie zu setzen, lohnt es sich, Holly genau zuzuhören: Nach der Erstellung ihres Vorgutachtens über Merkt hat man auf das Hauptgutachten verzichtet, weil die Forschungslücken so groß sind, dass „deren Schließung mehrere Forscherleben bedarf“.
Der Stand der Forschung ist in Merkts Fall ganz anders als bei den meisten Akteuren in anderen Städten, stellte die Historikerin fest. Man kann ihm „in den Kopf schauen“, man weiß viel darüber, wie er dachte, aber wenig davon, wie er agierte. Bei zwei Themen hat sie genau das dargestellt.
Merkts Haltung zur Judenverfolgung
Holly erzählte, dass sie in ihrem schriftlichen Gutachten ausführlich auf Merkts völkische Einstellung und auf seine Befürwortung der Rassenhygiene eingehe. Diese wurden von Steber in Bezug auf die Heimatpflege und Kulturpolitik und von Matthias Ring in Bezug auf die von Merkt vorangetriebene völkische und nationalistische Ausrichtung der Altkatholischen Kirche gründlich herausgearbeitet.
Holly zitiert aus von Merkt verfassten Schriftstücken, aus denen hervorgeht: Merkt hielt die „Ausschaltung“ der jüdischen Mitbürger aus Staat, Wirtschaft und Gesellschaft für „notwendig“. Dementsprechend sind auch keine Quellen bekannt, die beweisen würden, dass er sich davon distanziert hätte. Andererseits gibt es einen Eintrag in seiner Kriegschronik (1942), der auf Mitleid hindeutet. In einem Tagebucheintrag (1941) kritisiert er die „übertriebene“ Vorgehensweise gegen die Juden in Kempten: „Der Führer hat befohlen: ausschalten, nicht: quälen.“ Um Merkts Handeln richtig beurteilen zu können, besteht jedoch laut Holly „dringender Forschungsbedarf“. Auch die Frage von Michael Hofer, der betonte, dass es für seine Altkatholische Gemeinde wichtig wäre zu wissen, ob Merkt von der Arisierung jüdischen Eigentums persönlich profitierte, konnte die Referentin keine Antwort geben, weil diesbezüglich wissenschaftliche Untersuchungen fehlen.
Merkt als „Widerständler“? Wie Fehlinterpretationen entstehen
Kritisch unter die Lupe nahm Holly die Publikationen von zwei Journalisten (Ralf Lienert und Gernot Römer). Diese hätten das von Merkt in seinen für das Spruchkammerverfahren erstellten Verteidigungsschriften in dortigen Zeugenaussagen und in eigenen Zeitzeugenerhebungen suggerierte Bild über den Oberbürgermeister als Widerständler übernommen, ohne diese Quellen kritisch zu hinterfragen, mit anderen Quellen zu vergleichen und vorhandene wissenschaftliche Arbeiten einzubeziehen.
So kam es beispielsweise zu der Fehlinterpretation, Merkts Versuche, Deportationen zu verhindern, hätten zu seiner Amtsenthebung geführt. Dass der Oberbürgermeister in der Reichspogromnacht die SA und SS mithilfe der ihm unterstehenden Ortspolizei in die Schranken verwies, könnte auch mit seinem Anspruch, die eigene Autorität in der Stadt zu wahren, erklärt werden. In Bezug auf die in der Pogromnacht verhafteten Männer fragte Holly, warum von ihnen nur Bruno Kohn freikam. Weil er mit einer katholischen Frau verheiratet war, warf jemand aus dem Publikum ein. „Jüdische Bürger und Bürgerinnen, die nicht in den Genuss seiner Hilfen kamen, ihn vielleicht anders erlebt haben und während des Holocausts ihr Leben verloren, kommen naturgemäß nicht mit Unterstützungsschreiben in seinem Spruchkammerverfahren vor“, sagte die Historikerin.
Zwangssterilisierung und „Euthanasie“
Merkt war von 1919 bis 1945 Präsident des Kreistags von Schwaben und Neuburg (ab 1938 Bezirksverband). Diese Institution, zuständig u.a. für die Bereitstellung der Versorgung von psychisch Kranken, finanzierte die Heil- und Pflegeanstalten in Kaufbeuren, Irsee und Günzburg. In einer Kreistagssitzung beantragte der Präsident bereits 1930 die Sterilisierung von psychisch kranken Menschen und fand für seinen Vorschlag dort keine Mehrheit. In seinem Antrag zitiert er die Zeitschrift „Eugenik“: „Ein erdrückender und ständiger wachsender Ballast von untauglichen, lebensunwerten Menschen wird unterhalten und in Anstalten verpflegt.“
1932 sprach er auf der Bayerischen Kreistagsverbandsversammlung, wo er ebenfalls keine Mehrheit erzielte, von „Ballastexistenzen“, zu denen seiner Meinung nach „Blinde und Taubstumme, Gebrechliche und Blöde, unverbesserliche Trinker und zum Verbrecher Geborene und vor allem alle unheilbar Geisteskranken“ sowie an Tuberkulose und Syphilis Erkrankte gehörten. Niemand denkt daran, trotz der Not der übrigen, der arbeitsfähigen, sie unschädlich zu machen, wie die alten Spartaner dies getan haben“, behauptet Merkt. Dank der Sterilisierung, die er als „soziale Heilmaßnahme“ bezeichnete, hätte man mehr Geld für die „Gesunden“, die „Arbeitsfähigen“ und „Arbeitswilligen“ und das deutsche Volk hätte mehr „gesunden Nachwuchs“.
Vorkämpfer nationalsozialistischer Ideen
„Merkt verbreitete seine Ansichten gezielt bei Politikern, Medizinern, Behörden und einschlägigen Institutionen“, sagte Holly. Die Münchner „Gesellschaft für Rassenhygiene“ wählte ihn Anfang 1933 in ihren Hauptausschuss. Der Kemptener Oberbürgermeister fühlte sich geehrt, lehnte das Amt aber aus Zeitgründen ab. Seine Einstellungen zur Rassenhygiene und Zwangssterilisation gehörten zu den Gründen, warum Merkt sich 1933 selbst als Vorkämpfer nationalsozialistischer Ideen bezeichnete.
Dass der Präsident des Kreistags, der nur für die Finanzierung der Einrichtungen, aber nicht für deren Betrieb zuständig war, die Patientenmorde und die inhumanen medizinischen Versuche unterstützt hätte, kann man zum jetzigen Forschungsstand nicht nachweisen. Dass er über die Morde in der ersten Phase der „Euthanasie“, als die Patienten noch aus den Anstalten zur Tötung abgeholt wurden, detaillierte Kenntnisse hatte, beweist ein Tagebucheintrag von 1940. Wie viel wusste er über die späteren Vorgänge in den eigenen Häusern? Dazu geben die bekannten Quellen keine gesicherten Informationen. „Es ist jedoch schwer vorstellbar, dass der immer gut informierte Merkt nichts davon mitbekommen haben sollte“, meinte die Historikerin.
Publikumsfragen und Diskussion
Als Martin Fink danach fragte, ob Merkts Ansichten „über das für die Zeit übliche normale Maß hinaus“ einzustufen sind, wies Holly auf die beiden abgelehnten Anträge im Kreistag und im Kreistagsverband hin. Die Menschen wussten damals, dass dieser Kultur- und Rechtsbruch nicht in Ordnung und nicht gesellschaftsfähig war. Sonst wären die Tötungserlasse nicht geheim gewesen und die Täter hätten nicht versucht, ihre Taten zu verschleiern.
Auf die Frage von Dieter Zacherle nach der Rolle des Stadtrats antwortete die Referentin, dass dieser ab 1935 keine Entscheidungsbefugnisse mehr hatte. Sie lagen beim Oberbürgermeister und bei der Verwaltung, die aber von den Ministerien und der Partei stark kontrolliert wurden.
Bei Wortbeiträgen, die Grenzsituationen von behinderten Menschen und ihren Familien schilderten, wurde Holly emotional. Sie habe in ihrem früheren Beruf in einer Neurochirurgie gearbeitet und solche Situationen erlebt. Die Gesellschaft dürfe diese Menschen nicht alleine lassen. Viele der Wertvorstellungen der NS-Zeit lebten lange weiter. Der Ausdruck „unschuldig in Not geraten“ ist ein Beispiel.
„Würden Sie jetzt sagen, im Zweifel für den Angeklagten?“, fragte Franz-Rasso Böck. Man könne die Entscheidung über den Straßennamen nicht auf den Sanktnimmerleinstag verschieben. „Ich arbeite als Historikerin und nicht als Richterin“, entgegnete Holly. In der Wissenschaft werden Arbeitshypothesen immer wieder revidiert und veröffentlichte Studien von Kollegen kritisiert. Sie könne nur nachweisen, was die Quellen hergeben und die ließen einen manchmal im Stich. Sie habe keine vorgefertigten Meinungen. Was die Kemptener Bürger mit den Resultaten ihres Gutachtens tun, sei allein ihre Entscheidung.
Feste, Konzerte, Ausstellungen: Was man in Kempten und Umgebung unternehmen kann, lesen Sie im Veranstaltungskalender.
Mit dem Kreisbote-Newsletter täglich zum Feierabend oder mit der neuen „Kreisbote“-App immer aktuell über die wichtigsten Geschichten informiert.