„Fragt lieber die Zeitzeugen!“

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Authentische und emotionale Gespräche geführt: Dr. Veronika Heilmannseder dokumentierte Gespräche mit 16 Zeitzeugen über die NS-Zeit in Kempten. © Lajos Fischer

Kempten – Die erste Phase des Kemptener Zeitzeugenprojekts ist abgeschlossen. Im Rahmen eines Bewegten Donnerstags und einer Pressekonferenz wurde die Öffentlichkeit über den aktuellen Stand und über die ersten Ergebnisse informiert.

Vor etwa fünf Jahren hat man im Stadtarchiv eine Stelle mit der Aufgabe eingerichtet, Zeitzeugengespräche zu führen. Vor zwei Jahren entstand im Kulturamt und im Heimatverein gleichzeitig die Idee, bei den Interviews und ihrer Dokumentation systematisch und auf wissenschaftlicher Basis vorzugehen. Beide Akteure vereinbarten eine Kooperation und gewannen in der Person von Dr. Veronika Heilmannseder eine Wissenschaftlerin mit Erfahrung bei der Durchführung von Interviews. Sie beschlossen, in der ersten Phase des Projekts den Schwerpunkt auf die NS-Zeit zu legen.

Die Vorgehensweise

Die Organisatoren starteten zwei Aufrufe in der Presse und sprachen bekannte Persönlichkeiten direkt an. Gesucht wurden Menschen, die stark mit Kempten verbunden sind, die ihre Kindheit und Schulzeit hier verbrachten oder nach dem Krieg hierhergezogen sind. Auch Leute, die in den Allgäuer Dörfern lebten, aber in Kempten eine Schule besuchten, hat man einbezogen. Bei der Auswahl der Interviewten achtete man auf die Vielfalt: Die Menschen sollten aus unterschiedlichen Lebens- und Wohnsituationen stammen.

Heilmannseder entschied sich dafür, sogenannte narrative Interviews zu führen, das heißt eine Gesprächssituation zu schaffen und nicht mit vorher festgelegten Fragen zu arbeiten. Auf diese Art und Weise entstehen ergiebige, breit gefächerte Dialoge mit vielen Assoziationen. „Während des Gesprächs entwickeln sich manchmal Erinnerungen, die vorher nicht da waren“, erzählt die Wissenschaftlerin. Eine Folge dieser Methodenwahl ist, dass man vieles über die unterschiedlichsten Facetten des Stadtlebens – Architektur, Stellung der Frauen usw. -, aber auch über die Nachkriegszeit erfahren habe. Für Heilmannseder war es besonders wichtig, den Gesprächspartnern eine hohe Wertschätzung entgegenzubringen und das Erzählte auf keinen Fall zu bewerten. Manche Zeitzeugen, die mit ihr ihre schmerzvollen Erinnerungen an Leiderfahrungen geteilt haben, waren nach dem Interview so erschöpft, dass ihre Angehörigen ihnen von der Fortsetzung des Gesprächs abgeraten haben.

Die interviewten Zeitzeugen

Die Historikerin hat mit neun Frauen und sieben Männern gesprochen. Entstanden sind 18 Ton- und vier Videoaufnahmen. Die meisten Leute hat sie daheim aufgesucht. Eine Zeitzeugin lebt heute in München, sie hat den Aufruf in der Süddeutschen Zeitung gelesen. Die damaligen Wohnorte der Interviewten verteilen sich im gesamten Stadtgebiet (Illervorstadt, Kottern, Schelldorf, Haubenschloss, Beethoven-, Bodmann- und Parkstraße, Stiftkellerweg) oder sie lebten auf dem Dorf. Sie stammen aus den unterschiedlichsten sozialen Milieus (Arbeiter, Handwerker, Bürger, Beamten, usw.). Zu den namentlich erwähnten gehören Altoberbürgermeister Dr. Josef Höß und der emeritierte Professor Georg Karg, der zusammen mit Michael Mayr die Diskussion über die Umbenennung der Knussertstraße angestoßen hat. Heilmannseder sprach auch mit den Nachfahren von Alfred Kranzfelder.

Was passiert mit den Aufnahmen?

Alle Interviews, inklusive ihrer Transkription, kommen in das Stadtarchiv. Ab diesem Moment unterliegen sie dem Archivrecht und können nach einer Antragsstellung genutzt werden. In einem Fall wird das Material auf Wunsch der interviewten Person erst nach ihrem Tod freigegeben. Für eine öffentliche Präsentation in der Form einer Ausstellung oder sogar für die Herausgabe im Buchformat fehlen im Moment die finanziellen Mittel.

Quellenkritik

„Wieso braucht ihr Geld für wissenschaftliche Arbeiten? Fragt lieber die Zeitzeugen!“, erinnert sich Kulturamtsleiter Martin Fink an manche Äußerungen vor ein paar Jahren. „Die Oral History ist eine wertvolle Quelle“, betont Heilmannseder, aber für Historiker sei die Verwendung von mehreren unterschiedlichen Quellen Pflicht. „Eine Geschichte ist nie identisch mit der Quelle, die von dieser Geschichte zeugt“, formulierte Reinhart Koselleck in seinem Grundlagenwerk „Vergangene Zukunft“. Sie habe zahlreiche authentische Gespräche geführt, dabei viele Emotionen wahrgenommen, betonte die Projektleiterin. Aber die fachwissenschaftliche Kontextualisierung müsse erst erfolgen. „Wie sehr jemand bedrängt, verfolgt oder begeistert wurde, hängt oft von der familiären und beruflichen Situation ab.“ Ein 1935 geborener Zeitzeuge, der beim Bewegten Donnerstag im Publikum saß, gab ein Beispiel dafür. Er habe in der Parkstraße gewohnt. „Das war ein Nazi-Nest. Am Ende der Straße wohnte Dr. Merkt. Ich habe nie erlebt, dass dort jemand abgeholt wurde.“ Ein Bekannter aus Schelldorf habe ihm jedoch ganz andere Sachen erzählt.

Da unten an der Iller waren Baracken und da waren Ausländer. Und da musste ich einen holen und die Stadt bringen in so a Amt. Und da weiß ich, ich hab den gebracht und da hat der, der da drin saß, der Nazi, hat gesagt, was er ist. Ja, der hat gesagt, a Pole. Und dann hat er ihm gleich mit der Faust so ins Gesicht geschlagen, dass er geblutet hat.

Erste Bewertungen

Obwohl Heilmannseder oft betonte, dass sie keine Bewertung vornehmen wolle, hat sie dies natürlich stellenweise getan. Anders wäre eine Zusammenfassung der Interviewinhalte gar nicht möglich gewesen. Ein paar Beispiele:

  1. Die Aussagen der Historikerin bestätigten für Kempten die u. a. von Michael Wildt oder Frank Bajohr vertretene Auffassung, dass Hitler-Deutschland eine „Zustimmungsdiktatur“ war. „Den Nationalsozialismus haben alle sehr präsent erlebt, auch wenn es ihnen gar nicht so bewusst war“, sagte die Wissenschaftlerin. „In Kempten hat die Propaganda gut funktioniert.“ In der Bevölkerung sei die NS-Identifikation stark gewesen. Bei den Kindern habe die soziale Komponente eine besondere Rolle gespielt. Die erhofften Aufstiegschancen und das attraktive Freizeitangebot dürfe man nicht unterschätzen.
  2. Die Zeitzeugen bestätigten die vielseitigen Kontinuitäten nach dem Krieg, in den Institutionen (vor allem im Gerichtswesen), aber auch im Denken. Symptomatisch dafür sind die Nachrufe auf Anton Brändle aus dem Jahre 1953. Er war 1942 bis 1945 Oberbürgermeister und davor NSDAP-Kreisleiter. „Hilfsbereitschaft gegenüber jedermann und Pflichtbewusstsein haben ihn in besonderem Maße ausgezeichnet. Ehre seinem Andenken!“, schrieb Oberbürgermeister August Fischer im Namen des Stadtrates. Die Kontinuität der Eliten und ihres Ehrenkodex sei auch der Grund dafür gewesen, dass seine Familie die Beteiligung von Alfred Kranzfelder am Attentat am 20. Juli 1944 zunächst als Makel empfunden habe und lange durch Schuldempfinden geplagt worden sei.
  3. „In vielen Städten waren KZ-Häftlinge eine allgegenwärtige Erscheinung“, schreibt Frank Trentmann in seinem aktuellen Bestseller „Aufbruch des Gewissens“. Dass es in Kempten genauso war, bezeugt beispielsweise der Bericht einer Zeitzeugin, die als Kind die Häftlinge auf der Boleite gesehen habe und sogar ihre Abzeichen habe deuten können. „Und drum hab ich schon ein Problem gehabt, wenn nach dem Krieg ehrenwerte Leute, die halt auch sehr mitgesprungen sind, dass sie dann gesagt haben, sie hätten von diesen Grausamkeiten im KZ nicht gewusst,“ sagte sie im Interview.

Wie geht es weiter?

Weitere Zeitzeugen werden gesucht. „Es gibt Menschen, die eventuell selbst nicht wissen, dass sie interessant wären“, sagte Markus Naumann. Eine der Zeitzeuginnen berichtete über ihre Schwester, die mit drei Jahren in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren ermordet wurde. „Es muss in Kempten mehr Fälle geben. Die Dokumente zeugen von mindestens 20 Euthanasie-Opfern“, so der Vorsitzende des Heimatsvereins. Man wisse auch zu wenig über Zwangssterilisierungen. Die Forscher würden gerne mehr über die Täter erfahren. Aber auch weitere Berichte über Leid- und Gewalterfahrungen würden sie gerne dokumentieren. Persönliche Erinnerungsgegenstände wie Fotos oder Schriftstücke können im Stadtarchiv abgegeben werden.

In der nächsten Phase des Projekts konzentriert man sich auf die Nachkriegszeit. Auf den Wiederaufbau, auf Veränderungen und Kontinuitäten, auf das Schicksal der Vertriebenen.

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