Russland fühlt sich „wie im April 1945“: Experte erkennt Veränderung bei Putin

Bei einem schweren russischen Luftschlag mit ballistischen Raketen gegen die Stadt Sumy im Nordosten der Ukraine sind mehr als 30 Menschen ums Leben gekommen. Mehr als 100 Zivilisten wurden verletzt. Unter den Toten seien auch zwei Kinder, teilte Präsident Wolodymyr Selenskyj bei Telegram mit. 

Es ist ein weiterer schwerer Schlag im Ukraine-Krieg, der inzwischen mehr als drei Jahre andauert. Wie wird es in dem verfahrenen Konflikt weitergehen? Darüber sprach die "Neue Züricher Zeitung" (NZZ) zuletzt mit Markus Reisner, einem bekannten österreichischen Historiker und Offizier des Bundesheeres.

Angriff auf Sumy: Die Zeit spielt Russland in die Hände

"Es bieten sich entlang der Front mehrere Räume an, die günstig sind für russische Operationen, von der Region Sumy im Norden über den Donbass bis zur Südprovinz Saporischja", so der Militärexperte. Die Russen könnten ihm zufolge etwa versuchen, "im Nordosten der Provinz Charkiw ein großes Stück Ukraine herauszubrechen".

Reisner wies auch auf eine gängige Fehlannahme hin. "Der große Denkfehler ist, militärische Erfolge an Gebietsgewinnen zu messen. Denn hier handelt es sich um einen Abnützungskrieg. Das bedeutet, dass der Erfolg sich nicht über Geländegewinne definiert, sondern über Ressourcenverbrauch." Gehen einer Seite die Ressourcen aus, kann es laut dem Historiker sehr schnell gehen.

Die Zeit spielt den Russen in dieser Interpretation in die Hände. "Die entscheidende Frage ist nicht, wie lange die Russen durchhalten, sondern wie lange die Ukraine durchhalten kann", sagte Reisner der "NZZ".

"Wie im April 1945": Reisner sieht Putin in "hervorragender Position"

Im Interview ging es auch um die Gespräche zwischen Russland und der Ukraine, die US-Präsident Donald Trump angestoßen hat. Eigentlich wollte er den Krieg im Handumdrehen beenden, daraus ist nachweislich nichts geworden. Trotzdem wird über einen Waffenstillstand verhandelt. 

"Entscheidend ist, wer sich als Erster bewegt – wer sich dazu bekennen muss, dass er den Krieg möglicherweise nicht mehr weiterführen kann. Diesen Schritt haben nun die USA gewagt, die wichtigste Verbündete der Ukraine", so Reisner.

Putin hat in seinen Augen eine "hervorragende Position, denn er hat sich nicht als Erster bewegt, obwohl er möglicherweise selbst knapp vor dem Scheitern ist". Der österreichische Militärexperte findet auch: "Im Vergleich zu früher wirkt er viel selbstbewusster". Der russische Präsident hatte zuletzt ein Dekret erlassen, das 160.000 Männer zum Militärdienst verpflichtet. 

Für Reisner ein bemerkenswerter Schritt. "Drastisch ausgedrückt: Die Russen fühlen sich wie im April 1945 auf den Seelower Höhen mit dem Blick in Richtung Berlin: Sie glauben, den Sieg in Griffnähe zu haben." Der Historiker glaubt, dass Russland noch zwei bis drei Jahre durchhalten kann, "obwohl sich die Arsenale leeren".

Reisner: "Moskau führt diesen Krieg nicht allein"

Der Grund: "Moskau führt diesen Krieg ja auch nicht allein. China liefert rüstungstechnisch wichtige Bauteile, Iran Drohnen und Nordkorea Millionen von Artilleriegranaten. Dazu spielt Indien durch Rohstoffkäufe Geld in die russischen Taschen. Gerade China hat kein Interesse an einer Befriedung, denn dann würde sich Trump, wie angekündigt, stärker Ostasien zuwenden."

Ob die Rüstungsindustrie und Bevölkerung der Ukraine auf lange Zeit durchhalten können, ist laut dem Militärexperten fraglich. Russland richte seine Luftangriffe insbesondere auf Industrie und Infrastruktur. 

"Das Wichtigste, das man der Ukraine liefern muss, sind somit Flugabwehrsysteme mittlerer und hoher Reichweite", so Reisner. "Ohne die USA und ihre Lieferungen besteht die Gefahr, dass die Ukraine unter die Räder kommt. Ihr tapferer Abwehrkampf an den Fronten ist nicht entscheidend, wenn es nicht gelingt, die eigene Bevölkerung zu schützen und eine funktionierende Rüstungsproduktion aufrechtzuerhalten."