Ex-SPD-Chef Walter-Borjans kritisiert Scholz‘ Raketenplan: „Sollte erklären, warum er der Friedenskanzler ist“

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Ob Groko oder Nato – Norbert Walter-Borjans hat die SPD als Debattenpartei kennengelernt. Angesichts des Ukraine-Krieges sei inzwischen aber „eine trügerische Stille“ eingetreten.

Berlin – Eigentlich hat er sich längst der Marmorbildhauerei gewidmet. Norbert Walter-Borjans, ehemaliger SPD-Vorsitzender, fertigt inzwischen „Abstraktes aus Stein“. Neuerdings meißelt der 71-jährige Rheinländer „auch mal etwas Figürliches“, erzählt er im Gespräch mit IPPEN.MEDIA: „um eine Botschaft zu senden – wie in der Politik“.

Als SPD-Urgestein hat er jetzt ein politisches Signal gesetzt. In einer Erklärung des Erhard-Eppler-Kreises betonen Walter-Borjans und andere Sozialdemokraten, sie seien „tief besorgt über die Schlagseite, mit der gegenwärtig über Pro und Contra einer Stationierung von US-Langstreckenraketen in Deutschland und Wege zu einem Ende des Blutvergießens in der Ukraine debattiert wird“. Wie SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich warnen sie „eindringlich davor, die Gefahren einer Stationierung von Langstreckensystemen mitten in Europa zu unterschätzen“.

Herr Walter-Borjans, ist Olaf Scholz aus Ihrer Sicht ein glaubwürdiger Friedenskanzler?

Olaf Scholz handelt im Angesicht des Ukraine-Krieges in bester Absicht. Aber ich verstehe natürlich, worauf die Frage abzielt. Wenn sich Olaf Scholz im EU-Wahlkampf für die SPD als Friedenskanzler plakatieren lässt, ist das kurz nach der Genehmigung des Einsatzes deutscher Waffen auf russischem Territorium erklärungsbedürftig. Es geht nicht um mangelnde Glaubwürdigkeit, es geht um nahbare Kommunikation. Olaf Scholz sollte den Menschen zugewandter erklären, warum er der Friedenskanzler für Deutschland ist.

Sie kritisieren, dass die Bundesregierung die geplante Stationierung von US-Raketen in Deutschland gewissermaßen im stillen Kämmerlein am Rande des Nato-Gipfels getroffen habe – ohne größere Debatte. Was stört Sie genau?

Mich stört, dass eine so weitreichende Entscheidung, zu der es nicht nur eine seriöse Meinung gibt, der Öffentlichkeit einfach vorgelegt wird. Im Alleingang Fakten zu schaffen und darauf zu setzen, dass sie um des lieben Friedens willen geschluckt werden, ist weder mein Verständnis von Führung noch von Geschlossenheit.

Werden in der SPD kritische Meinungen zur Nachrüstung an den Rand gedrängt?

Sie werden jedenfalls kaum sichtbar. Die Geschlossenheit, die uns stark gemacht hat, lebt vom Ringen um die Sache ohne persönliche Animositäten. Ich schätze die SPD als Debattenpartei, das war immer eine große Qualität. Was haben wir leidenschaftlich gestritten: über die Hartz-Gesetze, über die Groko, früher über den Nato-Doppelbeschluss, auch über die Schuldenbremse. Das sollten wir nicht aufgeben für eine trügerische Stille.

Walter-Borjans kritisiert in den Medien einen „herabsetzenden Unterton“

Sie vermissen auch eine gesellschaftliche Diskussion über die Tomahawk-Marschflugkörper, die Russland abschrecken sollen. Befürchten Sie, dass in militärischen Fragen künftig immer weniger Kritik geäußert wird?

Politik ist ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Stimmung. Diese Lethargie, die ich vielerorts spüre – verglichen etwa mit den Demonstrationen gegen den Nato-Doppelbeschluss und die Nachrüstung Anfang der 1980er Jahre – finde ich nicht nur auffällig, sie besorgt mich zutiefst. Auch die mediale Berichterstattung halte ich für ziemlich einseitig. Mit dem herabsetzenden Unterton: Wir müssen sicherheitspolitisch endlich erwachsen werden. Wer die Sorgen vieler für dumm erklärt, muss sich nicht wundern, wenn Populisten das Feld auf ihre Art beackern.

Der frühere SPD-Vorsitzende Walter-Borjans hadert mit der Streitkultur in seiner Partei, US-Matrosen entladen eine Tomahawk-Rakete. © picture alliance/dpa | Michael Kappeler/U.S. Navy via DVIDS | Petty Off 2. Cl Zachary Grooman

In der Erklärung des Erhard-Eppler-Kreises, die auch Sie unterzeichnet haben, heißt es, Sie seien „tief besorgt über die Schlagseite“, mit der über die Stationierung von US-Raketen in Deutschland und ein mögliches Ende des russischen Krieges in der Ukraine gesprochen wird. Wo sehen Sie die Schlagseite?

Putin versteht offenbar nur eine Sprache, nämlich Härte. Das bestreiten auch wir nicht. Aber die herabsetzende Einteilung in „Experten“, die Raketen mitten in Deutschland als probate Antwort auf Raketen in einer dünn besiedelten russischen Exklave betrachten, und in „Träumer“, die darin eher eine Erhöhung der Kriegsgefahr sehen, hat schon vom Umgangsstile her Schlagseite.

Wann haben Sie das festgestellt?

Vor allem als der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich in der Debatte über eine Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine gefragt hat, ob es eventuell an der Zeit sei, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann. Dass andere das anders sehen, gehört zur Demokratie. Die damit streckenweise verbundene Überheblichkeit schaden ihr dagegen.

Wladimir Putin, dem „skrupellosen Spieler im Kreml, ist jedes Bauernopfer egal“

Durch den russischen Angriff auf die Ukraine ist die Nato zu ihrem Kernauftrag zurückgekehrt: Abschreckung und Verteidigung gegen einen Aggressor. Im Kalten Krieg habe das gewirkt, hört man häufig. Was setzen Sie dem entgegen?

Es ging um Abschreckung und Abrüstung. Von Letzterem ist in dem vorgelegten Plan keine Rede. Im Augenblick erleben wir eher ein teuflisches Schachspiel. Dem skrupellosen Spieler im Kreml ist jedes Bauernopfer egal, aber gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir über mehr als nur den nächsten Zug diskutieren.

Deutschland sollte aber schon auf die russische Aggression in der Ukraine reagieren?

Was die Unterstützung der Ukraine angeht, leistet Deutschland nach den USA mehr als alle anderen Länder. Das ist auch gut so. Nur sollten wir, wie Rolf Mützenich sagte, auch über eine Beendigung des Krieges jenseits des Schlachtfeldes nachdenken. Wir erleben seit dem russischen Überfall einen sehr verlustreichen Stellungskrieg. Wir haben unmissverständlich Partei ergriffen. Das heißt aber auch, dass wir als Vermittler in diesem Krieg aus russischer Sicht kaum infrage kommen dürften.

Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen sieht bereits das Ende der Politik der Zeitenwende aufziehen, weil Sie und Mützenich dem Kanzler „frontal widersprechen“. Wie verstehen Sie die Zeitenwende?

Es gehört zu Norbert Röttgens nassforschen Art, aus dieser Situation Honig zu saugen. Ich nehme das zur Kenntnis. Zeitenwende ist ein viel größerer Begriff. Da geht es um viel mehr als militärische Muskelspiele. Die Klimakrise, das Auseinanderdriften von Arm und Reich, Kriege und daraus resultierende Wanderungsbewegungen hängen eng miteinander zusammen. Die Welt hat sich in den letzten zehn, zwanzig Jahren grundlegend gewandelt. Das alles zusammen beschreibt eine Zeitenwende, die uns nicht weitermachen lässt wie bisher.

Verteidigungsminister Boris Pistorius zeigt sich nun offen für eine Debatte im Bundestag, auch wenn das Thema eigentlich nicht im Parlament diskutiert werden müsste. Es sei auch nicht vergleichbar mit dem Nato-Doppelbeschluss. Was sagen Sie dazu?

Ich habe Boris Pistorius als jemanden kennengelernt, der Klarheit und notfalls auch Härte mit Menschlichkeit und Fingerspitzengefühl verbindet.

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