Nida-Rümelin beklagt neue „Konformität der Urteile“ – Wann „Cancel Culture“ zur Gefahr wird

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Wie steht es um die Redefreiheit in Deutschland? Julian Nida-Rümelin beklagt „eine gewisse Konformität“ in den Medien und fordert Respekt für abweichende Meinungen.

Berlin – Es ist ein historischer Wert: Nur 40 Prozent der Deutschen glauben, frei ihre Meinung äußern zu können. Das geht aus einer Allensbach-Umfrage hervor. Demnach hat die gefühlte Meinungsfreiheit in der Bevölkerung den tiefsten Stand seit den 1950er-Jahren erreicht. Ist die freie Rede in Deutschland tatsächlich gefährdet?

Vor allem angesichts aktueller Konflikte sehen einige dieses Grundrecht eingeschränkt. Zuletzt etwa bei propalästinensischen Protestaktionen an Hochschulen, die von der Polizei geräumt wurden. „Wir sollten in diesem Land gewährleisten, dass eine offene Debatte über die grauenvollen Entwicklungen im Gazastreifen geführt werden kann“, sagt der renommierte Philosoph Julian Nida-Rümelin im Gespräch mit IPPEN.MEDIA. „Solche Protestformen müssen möglich sein.“

Nida-Rümelin war Kulturstaatsminister im ersten Kabinett von Gerhard Schröder (SPD). Sein aktuelles Buch trägt den Titel „Cancel Culture. Ende der Aufklärung? Plädoyer für eigenständiges Denken“. Im Gespräch kritisiert Nida-Rümelin, dass in politischen Debatten abweichende Meinungen und Personen „an den Rand gedrängt werden“ – angefangen bei der Migrationskrise über die Corona-Pandemie bis zum Ukraine-Krieg.

Herr Nida-Rümelin, darf man in diesem Land noch alles sagen?

Juristisch gesehen, darf man in diesem Land das meiste sagen, sofern es Rechte anderer, zum Beispiel in Form einer Beleidigung, nicht verletzt oder zum Völkerhass aufstachelt. In diesem Sinne leben wir in einem freien Land, in einer liberalen Demokratie. Eine Zensur findet nicht statt. Im internationalen Vergleich steht Deutschland recht gut da.

Umfragen zufolge hat aber jede und jeder zweite Befragte das Gefühl, nicht mehr offen die Meinung sagen zu können. Woran liegt das?

Dafür gibt es ganz unterschiedliche Gründe. Um einen gerade aktuellen Fall anzuführen: Die Leitung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ließ prüfen, ob man Professoren und Professorinnen, die sich kritisch zur polizeilichen Räumung des Palästina-Camps an der Freien Universität Berlin geäußert hatten, Forschungsmittel kürzen kann. Auch wenn das nun abgewendet erscheint, so gefährdet man die Forschungsfreiheit und geht den Weg in die illiberale Demokratie.

Das Bildungsministerium wird von einer liberalen Ministerin geführt. Welche Verantwortung trägt Bettina Stark-Watzinger in der Fördergeldaffäre?

Wenn sie von diesem Prüfvorgang in ihrem Haus tatsächlich nichts gewusst haben sollte, besteht im Ministerium ein Governance-Problem. Ich war ja selbst einmal Staatsminister im Kanzleramt und kenne die Prozesse gut. Es gibt zudem eine politische Verantwortung – die gilt, unabhängig von eigener Beteiligung. Wir sollten in diesem Land gewährleisten, dass eine offene Debatte über die grauenvollen Entwicklungen im Gazastreifen geführt werden kann. Wenn sich die Leute dann an deutschen Universitäten friedlich und gewaltfrei versammeln – sicher sind davon nicht alle lupenreine Demokraten – müssen solche Protestformen möglich sein.

„Cancel Culture gibt es über das gesamte politische Spektrum“

Sie haben ein Buch über Cancel Culture geschrieben. Was steckt in diesem Begriff?

Nicht zum ersten Mal wollte ich auch mit diesem Buch in all den aufgeregten und ideologischen Debatten zur Klarheit in den Köpfen beitragen. Cancel Culture hat die gesamte Kulturgeschichte der Menschheit begleitet, wie in meinem Buch vielfältig belegt wird. Sie ist, wie der Name schon sagt, eine kulturelle Praxis der Marginalisierung von Meinungen und Personen, der Versuch diese aus dem Diskurs zu entfernen. Cancel Culture kann am Ende bis zur physischen Vernichtung führen. Zum Glück erleben wir das in Deutschland heute nur sehr selten. Ein schreckliches Beispiel war der Mord am CDU-Landrat Walter Lübcke, der sich für die Aufnahme von geflüchteten Menschen eingesetzt hat. Aber die Demokratie ist nicht der Normalfall der Politik, in ihr gehört der respektvolle Umgang mit Meinungsverschiedenheiten zur Essenz. Wenn Cancel Culture dominiert, ist die Demokratie gefährdet.

Der Philosoph Julian Nida-Rümelin, geboren 1954 in München, war stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrats.
Der Philosoph Julian Nida-Rümelin, geboren 1954 in München, war stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrats. © picture alliance/dpa | Federico Gambarini

Wo sehen Sie eine Marginalisierung von Meinungen, gar von Personen in Deutschland?

Die Liste wäre lang, ich sehe da zum Beispiel die Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt, Mirjam Wenzel, die von radikalen propalästinensischen Aktivistinnen und Aktivisten antisemitisch beleidigt und bedroht wurde. Alice Schwarzer sollte beim „Literarischen Herbst“ in Leipzig wegen angeblich frauenfeindlicher und transgenderphober Aussagen die Bühne entzogen werden. Der Politologe Herfried Münkler hatte einige Schwierigkeiten bei seinen Vorträgen, weil er in linken Kreisen zu einer Reizfigur geworden ist.

Es wird gerne behauptet, Cancel Culture sei eine linke Praxis. Ist das so?

Nein, das Phänomen Cancel Culture gibt es über das gesamte politische Spektrum hinweg. In den USA wird diese Praxis besonders brutal ausgeübt. Der republikanische Gouverneur Ron DeSantis will Florida zu einer woke-freien Zone machen. Er setzt dabei auf eine Kulturbewegung, unterstützt von konservativen und rechtsgerichteten Eltern, die dafür sorgen, dass unliebsame Literatur aus den Schulbibliotheken entfernt wird und bestimmte Theorien wie die Critical Race Theory im Unterricht keine Rolle spielen. In Deutschland verlangen AfD-Politiker gelegentlich, progressive Theaterstücke abzusetzen.

„In der Corona-Pandemie hätten wir fairer miteinander umgehen müssen“

Aus Ihrer Sicht sind politische Debatten in Deutschland häufig zu eng gefasst. Woran stellen Sie das fest?

Die Situation ist ambivalent: Auf Social Media franst das Meinungsspektrum eher nach rechts aus. Extreme Positionen dominieren die Debatten und Konflikte dort. Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und in den seriösen Printmedien gibt es in Deutschland dagegen eher eine Verengung des Meinungsspektrums und eine gewisse Konformität der Urteile, die es in früherer Zeit so nicht gab.

Wie kommen Sie darauf?

Als die Migrationskrise im Herbst 2015 begann, wurden die Entwicklungen medial und politisch unisono begleitet. Die ersten kritischen Stimmen, etwa über die Gefahr des Islamismus, gab es erst nach der Kölner Silvesternacht. In der Corona-Krise war es ganz ähnlich, auch in dieser Zeit wurden abweichende Meinungen an den Rand gedrängt.

Zu Beginn der Pandemie wurden Sie stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrats. Was stieß Ihnen auf?

Ich war nie ein radikaler Maßnahmen-Kritiker. Ich habe alle großen Entscheidungen, Lockdowns und so weiter, in dieser Zeit für unvermeidbar gehalten. Was mir allerdings gar nicht gefallen hat, war die Form des öffentlichen Diskurses, weil sie zu einer gesellschaftlichen Spaltung beigetragen hat. Wir hätten in der Corona-Pandemie sachlicher und fairer miteinander umgehen müssen.

„Wo die AfD gesichert rechtsextrem ist, sollte man sie verbieten – ansonsten müssen wir sie aushalten“

Eine Engführung in der Debatte kritisieren Sie auch in der deutschen Ukraine-Politik. Welche Meinungen kommen aus Ihrer Sicht zu kurz?

In der Bevölkerung ist rund die Hälfte besorgt, dass es zu einer gefährlichen Eskalation kommen kann, wenn Deutschland der Ukraine bestimmte Waffen liefert. Wenn man dann die politischen Befürworter von Waffenlieferungen durchgeht, von FDP über Grüne bis zu CDU und CSU, ist dieses Auseinanderklaffen schon auffällig. In der SPD ist die Haltung zum Ukraine-Krieg nicht ganz so eindeutig, weil es in dieser Partei immer noch einen friedensbewegten Flügel gibt, der noch nicht marginalisiert ist.

Sehen Sie diese Kluft auch in politischen Talkshows?

In Talkshows ist auffällig, dass ein Großteil der Expertise der deutschen Sicherheits- und Militärpolitik nicht eingeladen wird. Ich spreche über Hochkaräter wie das SPD-Urgestein Klaus von Dohnanyi, das letzte noch lebende Mitglied aus dem ersten Kabinett von Willy Brandt. Ich spreche über Harald Kujat, ehemaliger Nato-General, oder Erich Vad, der immerhin sieben Jahre lang Militärberater von Angela Merkel war.

Brigadegeneral a.D. Vad listet auf seiner Internetseite zahlreiche Medien auf, mit denen er über Russland und die Ukraine gesprochen hat. Auch Kujat, Ex-Generalinspekteur der Bundeswehr, wird recht häufig nach seiner Meinung gefragt, wie das Ergebnis einer Google-Suche zeigt.

Wenn ich von deutschen Talkshows eingeladen werde, um zu militärischen Fragen im Ukraine-Krieg Stellung zu nehmen, weise ich darauf hin, dass ich kein Militärexperte bin und empfehle unter anderen Harald Kujat. Der wird aber lediglich mal von Servus TV eingeladen. Wir können meines Erachtens im öffentlichen Diskurs auf eine solche Expertise nicht verzichten – unabhängig davon, ob man mit seinen Positionen übereinstimmt.

Würden Sie der AfD eine Bühne geben?

Ich habe mich dafür öffentlich ausgesprochen, die AfD dort, wo sie gesichert rechtsextrem ist, zu verbieten – ansonsten müssen wir sie aushalten. Es wäre hochgefährlich, sich nicht mit dieser Partei inhaltlich auseinanderzusetzen. Die unterschiedlichen Positionen müssen sichtbar werden, damit sich die einen eben nicht als „Alternative“ aufspielen können. Ich warne davor, jetzt alles auf die Geschlossenheit der Demokraten gegen die AfD zu setzen – das genügt nicht, um die Demokratie zu stärken.

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