Kreml-Chef sieht sich auf Zielgeraden - Putin feiert sich für Frontverlauf - dabei verheimlicht er wichtige Details

Die Lage im Ukraine-Krieg ändert sich gerade deutlich – das ist zumindest die Auffassung des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Bald ist es drei Jahre her, dass er in die Ukraine einmarschierte. Auf seiner großen, jährlichen Pressekonferenz, bei der er sich vorher ausgewählte Fragen von Journalisten stellen ließ, gab der Kreml-Chef an, Russland sei dabei, seine vorrangigen Ziele zu erreichen. 

Jeden Tag gebe es Fortschritte, so Putin über die Kämpfe in der Ukraine und im von der Ukraine besetzten russischen Kursk. „Wir kommen voran, nicht um 200 Meter pro Tag, sondern wir können das in Quadratkilometern pro Tag darstellen. Wir nähern uns unserem Ziel, welches wir auch zu Beginn unserer militärischen Sonderoperation abgesteckt haben“, sagt er. Es überrascht nicht, er muss sich maximal optimistisch zeigen, sonst würde sein Propaganda-Gebilde und damit sein ganzes Regime sofort in sich zusammenbrechen. 

Zuletzt aber konnten die Ukrainer einen Erfolg verbuchen, der Putin ins Mark getroffen hat. Mitten in Moskau töteten sie mithilfe eines Sprengstoffanschlags den hochrangigen russischen General Igor Kirillow. Er war der Chef von Putins ABC-Abwehrtruppen. 

An der Front läuft es zwar besser, aber nicht ganz gut, wie es Putin auf der Pressekonferenz vorgab. Zwar können die Ukrainer in Kursk auf russischer Seite derzeit Gelände halten. Doch die Russen konzentrieren sich auf das ukrainische Gebiet südlich von Pokrovsk. „Und hier machen die Russen leider Fortschritte“, bestätigt der Verteidigungsexperte Gustav Gressel gegenüber FOCUS online.  

„Russische Kräfte konnten wie Krebs überall Metastasen bilden“ 

Zudem würden sich die Russen darauf vorbereiten, den Fluss Oskil im Osten der Ukraine mit stärkeren Kräften zu überschreiten, nachdem es der Ukraine nicht gelungen war, die russischen Brückenköpfe zu zerstören. Das sei laut Gressel leider symptomatisch für dieses Jahr: Oft hätten brenzlige Situationen für die Ukraine durch frühe und entschlossene Gegenangriffe bereinigt werden können, meint der Experte. „Diese fanden aber nicht statt oder kamen zu spät, und so konnten russische Kräfte wie Krebs überall Metastasen bilden.“ 

Die Gründe für diese Lage seien mannigfaltig: eine Führungsstruktur, die über ihre Kapazitätsgrenzen hinaus belastet ist, schlechte Versorgungsketten, zu wenige Reserven, schlechter Trainingsstand, ein Mangel an gepanzerten Fahrzeugen und ein Mangel an Munition.  

All das führe dazu, dass die Ukraine zu kleinen Gegenangriffen derzeit nicht in der Lage sei und größere Gegenoffensiven für die nächste Zeit komplett auszuschließen seien, so Gressel. Um das zu ändern, müssten viele abgekämpfte Einheiten wieder neu aufgebaut werden, und dazu fehle sowohl das Personal als auch Material.  

Zur Wahrheit – und die ließ der Kreml-Chef auf der Pressekonferenz aus – gehört nach Ansicht des Experten aber auch: Der russischen Armee gehe es derweil nicht besser.„Putins Armee hat ihre Durchbrüche schlecht ausnutzen können und ist nicht in der Lage, raumgreifende Operationen durchzuführen.“ Auch die neu vorgestellten Rekrutierungszahlen würden sich nicht mit den Truppenbewegungen an der Front decken. Sprich: Zu wenig Soldaten für zu umfangreiche Operationen. 

„Russische Streitkräfte werden durch den Abnutzungskrieg zunehmend geschwächt“ 

Bereits seit August kontrolliert die Ukraine Teile der russischen Grenzregion Kursk. Das setzt Putin zunehmend unter Druck. Wie sehr, zeigte die Pressekonferenz. 

In der live im Staatsfernsehen übertragenen Fragerunde fragte eine Bewohnerin aus Kursk, wann sie und andere Betroffene endlich in ihre Häuser zurückkehren könnten und die Region wieder aufgebaut werde. 

Putin wich einer konkreten Antwort aus und erklärte lediglich: „Alles wird erledigt.“ Einen genauen Zeitpunkt konnte er nicht nennen, versprach jedoch: „Aber ganz sicher werden sie vertrieben.“ 

Putin betonte, dass nach einer Rückeroberung der Region alle Schäden dokumentiert und beseitigt würden. „Alles wird wieder aufgebaut“, versprach er, darunter Straßen und Infrastruktur. Gleichzeitig bat er die Bewohner, die ihre Wohnungen verloren haben und in Notunterkünften leben, weiterhin um Geduld. 

Für die Regierung in Kiew sind diese Positionen strategisch wichtig für mögliche Friedensverhandlungen. 

Ein weiterer Vorteil für Putin könnte sich erst noch ergeben. Der Schweizer Militärexperte Albert Stahel sieht die Gefahr, dass sich die mögliche Einstellung der US-Waffenhilfe an die Ukraine durch Donald Trump für die Ukraine negativ auswirken könnte. Er betont aber auch, was Putin verschweigt: „Gleichzeitig werden die russischen Streitkräfte durch den Abnutzungskrieg zunehmend geschwächt.“  

Die bisher erlittenen Verluste an Kampftruppen werde Russland auf Dauer nicht ausgleichen können. „Wie die Ereignisse in Syrien aufgezeigt haben, kann auch Russland militärisch besiegt werden“, sagt Stahel zu FOCUS online. 

Drei Szenarien auf dem Schlachtfeld

Was ist im kommenden Kriegsjahr nun zu erwarten? Folgende drei Szenarien sind laut Gressel auf dem Schlachtfeld denkbar:  

  • Szenario 1: „Ermattet die Ukraine schneller als Russland, gewinnt Russland“, sagt Gressel. „Gewinnen heißt für Moskau nicht, nur eine Landbrücke zur Krim zu haben, sondern Kiew zu erobern, die Ukraine als Volk auszulöschen.“  
  • Szenario 2: Erlahmt Russland, ohne dass die Ukraine ertüchtigt werde, das auszunutzen, komme es zu einem Patt und vermutlich dem Wiederaufflammen des Krieges in einigen Jahren, so der Experte.  
  • Szenario 3: „Kann die Ukraine ein russisches Erlahmen ausnutzen, gewinnt sie.“  

Den Krieg erfolgreich fortzusetzen, wird insgesamt aber im kommenden Jahr für Russland schwerer. „Die Probleme in der Wirtschaft – Inflation, Arbeitskräftemangel, Güterverknappung – werden drängender, die russischen Depots an Fahrzeugen leeren sich langsam.”  

Szenario 2 und 3 seien trotzdem höchstens nach 2025 denkbar. Folglich stelle sich die Frage, ob die Ukraine im nächsten Jahr kollabiert (Szenario 1). Ein entscheidender Faktor sind besagte US-Hilfen.  

„Zumindest gegenwärtig hört es sich von Seiten der künftigen Trump-Administration nicht danach an, als dass die Ukraine demnächst fallen gelassen wird. Aber in welchem Ausmaß Trump die Ukraine unterstützt, bleibt fraglich.“ Aber selbst wenn die Ukraine zeitnah ohne US-Hilfe auskommen müsste, würde sie sich noch eine gewisse Zeit wehren können, meint Gressel.  

Das kommende Jahr werde daher der Ukraine-Krieg aller Wahrscheinlichkeit noch andauern, allerdings sollte mehr und mehr sichtbar werden, wer ihn wohl gewinnt.  

Neuwahlen in Deutschland und was sie für den Ukraine-Krieg bedeuten  

Einen großen Einfluss könnten auch die Neuwahlen in Deutschland auf den Krieg haben. Immerhin ist die Bundesrepublik nach den USA zweitwichtigstes Geberland für die Ukraine.  

So könnte eine Regierung unter einem Kanzler Friedrich Merz (CDU) Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine liefern. „Damit könnte die Abhängigkeit der Ukraine von den US-Lieferungen mit den weitreichenden ATACMS beendet werden“, sagt Stahel. Sollte Kanzler Olaf Scholz (SDP) weiter regieren, wird die Ukraine den wichtigen Taurus wohl nie bekommen.  

Unabhängig davon, wer die künftige Regierung in Berlin anführt: Stahel rät dazu, dass „Europa nach der Amtseinsetzung von Donald Trump unter der Führung von Deutschland die Führung bei der Unterstützung der Ukraine einnehmen sollte. Die Ukraine ist schließlich ein europäischer Staat.“ Das wiederum sieht Putin definitiv anders.