Mitgefühl schlägt Angst: Warum ich Gaza-Kinder in meine Stadt holen will

Was ist uns ein Kinderleben in Gaza wert? Diese Frage müssen wir stellen, nachdem das Bundesinnenministerium der Hilfsinitiative deutscher Städte für verletzte und notleidende Kinder aus Nahost eine deutliche Absage erteilt hat. Für mich als Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Hannover ist die Haltung des Ministeriums frustrierend und enttäuschend.

Zerstörung, Hunger und Tod prägen seit Monaten das Leben der Menschen im Gazastreifen. Die humanitäre Situation ist dramatisch – insbesondere für Kinder, die unter Verletzungen, Traumata, Mangelernährung und dem Verlust ihrer Familien leiden. Auch in Israel sind Kinder von den Folgen des Konflikts betroffen.

Hoffnung und Heilung für Kinder aus Gaza und Israel

Angesichts des Leids hat die Landeshauptstadt Hannover gemeinsam mit dem Landesverband jüdischer Gemeinden und der palästinensischen Gemeinde den Impuls für die humanitäre Aktion gesetzt und erklärt, verletzte und traumatisierte Kinder aus Gaza und Israel aufnehmen zu wollen, um sie in Hannover medizinisch und psychologisch zu versorgen. 

Eine Reihe weiterer Großstädte hat sich der Initiative angeschlossen – auch die niedersächsische Landesregierung und die evangelische Kirche haben sich entsprechend geäußert. Die beteiligten Kommunen sind von der Überzeugung getragen, dass Menschlichkeit keine Grenzen kennen darf.

Hannover war bereit für sofortige Hilfe

In Hannover war vorgesehen, zunächst bis zu 20 alleinreisende Kinder aufzunehmen. Die Landeshauptstadt und die Region Hannover haben dafür die organisatorischen und medizinischen Voraussetzungen geschaffen. Unsere Kliniken verfügen über herausragende Kompetenzen. Auch die psychologische Betreuung traumatisierter Kinder kann durch spezialisierte Fachkräfte gewährleistet werden. 

Zudem hatten sich Pflegefamilien bereit erklärt, Kinder aufzunehmen und ihnen in einer geschützten Umgebung ein Stück Geborgenheit zurückzugeben. Es geht also nicht um politische Symbolik, sondern um ganz konkrete Hilfe. Die Kommunen können das leisten – und sie sind bereit dazu.

Bundesregierung blockiert humanitäre Initiative

Umso unverständlicher ist die Entscheidung der Bundesregierung, diese Initiative nicht zu unterstützen. Das Bundesinnenministerium begründete seine Absage mit der Komplexität der Verfahren zur Identifizierung der Kinder, der sicherheitsrechtlichen Überprüfung mitreisender Angehöriger, der Kostentragung sowie der Frage einer möglichen Rückkehr. 

Diese Argumentation kann ich nicht gelten lassen. Deutschland hat in der Vergangenheit mehrfach bewiesen, dass die Aufnahme verletzter oder kranker Kinder aus Kriegs- und Krisengebieten – etwa aus Syrien, der Ukraine oder der Türkei – in geordneten Verfahren möglich ist. Es gibt funktionierende Mechanismen und eingespielte Verwaltungsstrukturen, die auch in diesem Fall hätten genutzt werden können.

Die kommunale Initiative war nie als Ersatz, sondern als Ergänzung zu internationalen Hilfsmaßnahmen gedacht. Wir wissen, dass Hilfe vor Ort Vorrang hat. Doch Fakt ist, dass viele Kinder in Gaza keine angemessene medizinische Behandlung erhalten können. Wenn deutsche Städte in der Lage und bereit sind, Kindern in dieser Notlage temporären Schutz und Heilungschancen zu bieten, dann sollte der Bund das nicht verhindern, sondern unterstützen. Zahlreiche andere europäische Länder und Kommunen machen vor, wie es gehen kann.

Ein Rückschritt in humanitärer Verantwortung

Die Entscheidung, das Hilfsangebot abzulehnen, ist aus unserer Sicht ein Rückschritt in der humanitären Verantwortung unseres Landes. Sie sendet ein falsches Signal – sowohl an die betroffenen Kinder und Familien als auch an die vielen engagierten Menschen in unseren Städten, die mit großem Mitgefühl und Einsatzbereitschaft geholfen hätten. 

In Hannover haben uns zahlreiche Hilfsgesuche erreicht: Eltern aus dem Gazastreifen oder ihre Angehörigen hier in Deutschland baten um Unterstützung, weil ihre Kinder schwer verletzt oder krank sind. Diesen Menschen nun erklären zu müssen, dass die Aufnahme aufgrund administrativer Bedenken scheitert, ist zutiefst enttäuschend.

Belit Onay (Grüne) ist seit dem Jahr 2019 Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Hannover. Geboren wurde er im niedersächsischen Goslar als Sohn einer türkischen Gastarbeiterfamilie.

Wir appellieren eindringlich an das Bundesinnenministerium, diese Entscheidung zu überdenken und den Weg frei zu machen für eine pragmatische, unbürokratische Lösung. Die medizinischen Einrichtungen in Hannover, in der Region und in den beteiligten Städten stehen bereit. Ärztinnen, Pflegekräfte, Therapeutinnen und ehrenamtliche Helfer warten darauf, ihren Beitrag zu leisten.

Menschlichkeit statt Bürokratie

Es geht um konkrete Hilfe für Kinder, deren Leben akut bedroht ist. Jedes Kind hat ein Recht auf medizinische Versorgung, auf Sicherheit und auf eine Zukunft. Menschlichkeit darf nicht an bürokratischen Hürden scheitern. Gerade in Zeiten, in denen die Welt durch Kriege, Hass und Misstrauen zerrissen ist, müssen wir als Gesellschaft zeigen, dass Mitgefühl und Solidarität stärker sind als Angst oder politische Abwägung.

Hannover steht zu seiner Verantwortung und zu seiner Haltung. Wir werden weiterhin alles dafür tun, dass diese Initiative nicht vergessen wird und dass verletzte Kinder aus dem Gazastreifen und aus Israel die Hilfe bekommen, die sie dringend brauchen. Denn es darf in dieser Frage keine Trennung nach Herkunft, Religion oder Staatsangehörigkeit geben – es geht um das Leben von Kindern, die keine Stimme haben, um sich selbst zu helfen.