Als ich Friedrich Merz’ Aussagen zum Stadtbild das erste Mal gehört habe, wollte ich mich nicht dazu äußern. Zum einen, da ich gerade zu oft das Gefühl habe, dass Politik vor allem daraus besteht, dass einzelne große Sätze rausposaunt werden, sich alle einmal darüber aufregen, nach einer Woche ist es damit vorbei und es kommt das nächste Thema. Um Lösungen, politische Maßnahmen oder ihre Alternativen geht es dabei nur selten. Ich bin davon überzeugt, dass diese Dynamik Vertrauen kostet.
Zum anderen, weil ich fand, dass man ihm die Möglichkeit geben sollte, zu erklären, was er gemeint hat. Die Chance, genau das zu tun, hätte er zu Beginn der Woche gehabt. Er hätte seine Aussage einordnen können, er hätte sogar konkrete Vorschläge machen können, was er für mehr Sicherheit in deutschen Innenstädten tun will. Stattdessen kam: ziemlich viel Geraune. Ein bisschen Augenzwinkern und damit es etwas netter klingt, wurden dann die Töchter ausgepackt.
Sicherheit in Innenstädten: Was Politiker wirklich tun müssen
In diesem Moment habe ich mich entschieden, mich dazu zu äußern. Erstens, weil ich als junge Frau – und ich weiß, dass es bei Weitem nicht nur mir so geht – wütend darüber bin, dass unser Schutz und unsere Rechte für manche Politiker immer dann von Bedeutung sind, wenn es darum geht, ihre Politik zu rechtfertigen. Und dann vergessen werden, wenn es nicht mehr opportun ist.
Zumindest habe ich Friedrich Merz in den letzten Jahren nicht gerade als einen leidenschaftlichen Kämpfer für eine bessere Finanzierung von Frauenhausplätzen, mehr Kita-Ausbau, den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen oder Lohngleichheit erlebt. All das wären allerdings Themen, für die er sich einsetzen müsste, wenn er wirklich mal die Töchter im Land fragen und sie nicht nur instrumentalisieren würde. Denn wir sind mehr als die Feigenblätter für rechte Politik.
Migration und Stadtbild: Merz reduziert Probleme auf Äußerlichkeiten
Und zweitens, weil Friedrich Merz anscheinend überhaupt nicht verstanden hatte, warum sein Satz so problematisch war. Weil in deutschen Innenstädten alles super ist? Bei Weitem nicht. In vielen Innenstädten – nicht in allen, wie von Friedrich Merz suggeriert, aber doch in zu vielen – gibt es Probleme mit Drogenkriminalität, mit Vermüllung, an vielen Bahnhöfen fühlt man sich schon lange nicht mehr wirklich sicher.
Und dagegen muss und kann man etwas tun – mit einer besseren Ausstattung der Kommunen, mehr Sicherheitspersonal in betroffenen Gegenden, einer härteren Gangart gegen kriminelle Drogengangs bei gleichzeitigen Anlaufstellen und Unterstützung für Süchtige, mit mehr Investitionen in Prävention und Integration. Und mit dem entschiedenen Kampf gegen Armut. Aber stattdessen verschiebt Friedrich Merz das Problem mit seiner Stadtbild-Aussage weg vom Verhalten hin zum Aussehen.
Plötzlich geht es um die Frage, wer ins Stadtbild passt, also wer so aussieht, dass er in Friedrich Merz’ Stadtbild passt. Damit reduziert er die oben genannten Probleme auf Migration. Er unterschlägt, dass bei über 60 Millionen Menschen, die in Deutschland in Städten leben, und nur knapp über 40.000 unmittelbar ausreisepflichtigen Personen Abschiebungen nichts an diesen Problemen, geschweige denn am Stadtbild, ändern würden.
Und er ignoriert, dass man Menschen nicht an der Nasenspitze ansieht, seit wann sie hier leben oder ob sie eine deutsche Staatsbürgerschaft haben oder nicht. Gemeint sind also alle, die nicht weiß genug oder deutsch genug aussehen. Gemeint sind Töchter selbst, sind Väter, die als Gastarbeiter hierherkamen, sind Mütter, die aufgrund von Rassismus Angst um ihre Söhne haben. Menschen, die Teil dieses Landes sind. Friedrich Merz hat im Wahlkampf mal gesagt, Deutschland sei nicht Kreuzberg, sondern Gillamoos. Der Wahlkampf ist aber vorbei. Und Merz sollte endlich verstehen, dass er als Kanzler eben Kanzler für Gillamoos und für Kreuzberg sein muss.
Merz, das Stadtbild und die Trump-Methode
Zumal er mit seinen Aussagen Maßstäbe an seine Politik anlegt, die er nie einlösen kann. Ich kann mir als Politiker vornehmen, die Kriminalstatistik zu senken oder die Zahl der Obdachlosen zu verringern. Das sind messbare Ziele. Das Stadtbild zu ändern, sodass es „wieder deutscher“ aussieht, kann ich aber nur, wenn ich Menschen zwinge zu gehen, die schon lange hier sind.
Denn dass dieses Land in den letzten Jahrzehnten vielfältiger geworden ist, ist eine Realität, ob es Friedrich Merz gefällt oder nicht. Das zu ändern wäre zumindest nicht mit demokratischen und rechtsstaatlichen Mitteln möglich. Wie es aussehen könnte, sehen wir gerade in den USA, wo Trump mit ICE ganze Stadtviertel lahmlegt und gewaltsam ohne rechtliche Grundlage Wohnungen stürmt. Entweder Merz will diese Mittel oder – was ich für viel wahrscheinlicher halte – er hat einfach mal wieder nicht darüber nachgedacht, was seine Äußerungen bedeuten. Und damit der AfD perfekte Munition an die Hand gegeben.
Auch wenn zum Beispiel die Kriminalität zurückgehen würde, werden sie ihn genau mit dieser Aussage jagen und immer wieder sagen: „Aber das Stadtbild.“
Das große Merz-Problem: Fehlende Strategie gegen die AfD
Hier wird ein noch größeres Problem deutlich, das wir immer wieder mit dieser Bundesregierung, mit diesem Bundeskanzler, sehen: Es gibt keine klare Strategie im Umgang mit der AfD. Es gibt Zickzack-Kurse und den Versuch, die AfD klein zu machen, indem man ihre Thesen übernimmt.
Dass das nicht funktioniert, lehrt uns nicht nur ein Blick in die Geschichte, sondern auch in andere Länder. Jetzt muss man ehrlich sein: Keine Partei hat gerade eine wirklich überzeugende Strategie im Umgang mit dem zunehmenden Rechtsextremismus, auch meine nicht. Jede steht in der Verantwortung, eine zu finden. Aber so wie ich mich während unserer Regierungszeit gewehrt habe, wenn SPD und Grüne das Erstarken der AfD allein dem Oppositionsführer Friedrich Merz in die Schuhe schieben wollten, ist es verdammt schwach, wenn der Union jetzt nichts Besseres einfällt als der Verweis auf die Ampel.
Man kann von einem Kanzler erwarten, dass er eine Strategie zum Schutz der Demokratie hat. Nach den letzten Monaten muss man sagen: Friedrich Merz hat sie nicht.
Nach großem öffentlichen Druck und vielen Töchtern, die klarmachten, dass Merz nicht für sie spricht, sah sich dieser nun Mitte der Woche gezwungen, zurückzurudern und nach fast einer Woche zu erklären, dass es doch nicht so gemeint war. Wirklich besser ist es dadurch nicht geworden.
Aber es reicht auch nicht, dabei stehen zu bleiben und zu sagen, wie schlimm alles ist. Alle, die über die Aussage von Merz wütend sind, sollten nicht in der Verteidigungshaltung verharren. Es gibt so viele Debatten zu Sicherheit, die wir sinnvoll führen könnten. Es gibt so viel zu verbessern in deutschen Innenstädten. Es gibt für die Töchter so vieles zu gewinnen.
Ich will, dass Frauenhäuser so finanziert werden, dass nie wieder eine Frau abgewiesen werden muss. Ich will, dass Frauen sicher sind – auf der Straße, im Netz und in den eigenen vier Wänden. Und ich will einen öffentlichen Raum, in dem sich alle wohlfühlen – unabhängig vom Geschlecht oder der Hautfarbe.
Über die Kolumnistin
Die frühere Grünen-Co-Vorsitzende Ricarda Lang schreibt eine Kolumne auf FOCUS online. Seit Dezember 2024 legt die Bundestagsabgeordnete ihre Sicht auf aktuelle politische Themen und Debatten dar. „Lang-fristig gedacht“ ist der Name der Kolumne, mit der sie den Blick auch konstruktiv nach vorne richten möchte.