„Fragen Sie mal Ihre Töchter, was ich damit gemeint haben könnte“, antwortete Bundeskanzler Friedrich Merz, als ein Journalist bei der Pressekonferenz am vergangenen Montag nachfragte, was mit seiner Äußerung über das Problem mit dem Stadtbild gemeint sei.
Denn vergangene Woche hatte Merz bei einem Termin in Brandenburg zu dem Thema Migration gesagt: „Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen."
Töchter gefragt – was sagen sie wirklich?
Merz behauptet, dass die Töchter wüssten, was damit gemeint sei. Aber was sagen die Töchter? FOCUS Online hat sie gefragt und 15 Frauen haben ihre Sicht auf die Debatte geschildert. Klar ist: Die Umfrage ist nicht repräsentativ, lässt aber verschiedene Standpunkte zu.
Marie D. (28), Berlin‑Wedding
„Im Alltag fühle ich mich meist sicher, nachts bin ich aber aufmerksamer – nicht wegen eines bestimmten ‚Stadtbildes‘, sondern weil Männer mir schon oft respektlos oder bedrohlich begegnet sind. Wenn Friedrich Merz das ‚Stadtbild‘ mit Migration und Unsicherheit verknüpft, bedient er ein rassistisches Narrativ, das an der Realität vieler Frauen vorbeigeht.
Die größte Gefahr im öffentlichen – und leider vor allem im privaten – Raum für uns ‚Töchter‘ sind Männer, egal welcher Herkunft, sozialen Schicht oder Alters. Statt ‚die Töchter‘ zu befragen, sollte Herr Merz lieber seine ‚Söhne‘ fragen, warum Frauen sich draußen immer noch unwohl fühlen müssen. Es ärgert mich, dass er unsere Sicherheit nutzt, um Ängste zu schüren.“
Laura K. (42) aus Nürnberg
„Ich wohne in einem stark migrantisch geprägten Stadtteil von Nürnberg. Heute Morgen wurden wir von einem Polizeieinsatz geweckt – offenbar ging es um Clan‑Kriminalität. Für uns ist so etwas leider keine Ausnahme mehr, sondern fast schon Alltag. Das ist beklemmend, besonders, wenn man – wie ich – alleinerziehend ist und sich fragt, wie sicher man eigentlich in Nürnberg noch lebt. Wenn ich dann durch die Straßen gehe, sehe ich Plätze, die zunehmend verwahrlosen, an denen offen Drogen konsumiert werden. Das macht wütend und traurig zugleich, weil ich weiß, wie schön diese Orte einmal waren. Es gibt ein Portal, das alte Bilder aus Nürnberg zeigt – ein Blick darauf reicht, um zu sehen, wie sehr sich manches verändert hat. Früher lebendig und gepflegt, heute oft heruntergekommen und mit einem Publikum, dem man nachts lieber nicht allein begegnen möchte.“
Natalie (46) aus Berg am Starnberger See
„Ich bin gern ein Münchner Kindl – aber irgendwann ging’s nicht mehr. Ich wollte, dass meine Kinder ruhiger und sicherer aufwachsen. Mein Sohn ist Autist und war in München‑Sendling das einzige deutsche Kind in der Klasse. Er wurde deswegen gemobbt.
Meine Tochter ist blond, zierlich, hübsch – ich habe sie zum Kampfsport geschickt, damit sie sich wehren kann, wenn’s mal nötig ist. Ich bin Jüdin. Und ehrlich gesagt: Manchmal habe ich Angst. Im Sommer hatte ich ein Erlebnis, das mir nachging. Ich war in Köln unterwegs, saß in der S‑Bahn – kurze Hose, Hitze, ganz normaler Tag. Ich schaue mich um: fast nur Männer, viele sprechen Arabisch. Und plötzlich zieht sich in mir etwas zusammen. Dieses Gefühl, beobachtet zu werden, fehl am Platz zu sein. Fremd – mitten in Deutschland.
Auch München hat sich verändert. Früher gab es kleine Läden, Bäcker, Gemüsehändler. Heute reiht sich ein Imbiss an den nächsten, Shisha‑Bars statt Familienbetriebe. Ich habe nichts gegen Menschen, die hierherkommen, wenn sie wirklich Teil unserer Gesellschaft werden wollen. Aber Integration funktioniert nur, wenn man aufeinander zugeht – nicht, wenn jeder in seiner eigenen Welt bleibt. Ich will mich hier nicht verstecken müssen: nicht als Frau, nicht als Mutter und nicht als Jüdin.“
Laura J. (28), Stuttgart
„Vor allem abends und nachts fühle ich mich draußen oft unsicher. Dabei hat das für mich wenig mit der Herkunft der Menschen zu tun, sondern mit geschlechtsspezifischem Verhalten. Besonders unangenehm sind für mich Gruppen von Männern – egal, welche Herkunft oder Aussehen sie haben. Unerwünschte Zurufe, aufdringliches Verhalten oder negative Erfahrungen prägen mein Sicherheitsgefühl. Vor Gruppen migrantischer Frauen habe ich mich dagegen nie unsicher gefühlt. Die aktuelle Debatte über Frauen und Migration finde ich deshalb bemerkenswert. Plötzlich wird der Schutz von Töchtern ins Feld geführt, obwohl sich Herr Merz bisher kaum für Frauenrechte eingesetzt hat. Frauen als Argument für die eigene migrationspolitische Agenda zu benutzen, finde ich einfach unehrlich – und ehrlich gesagt auch ein bisschen amüsant.“
Lea T. (28), Stralsund
„Grundsätzlich fühle ich mich draußen sicher. Trotzdem habe ich als Frau schon Situationen erlebt, in denen ich mich bedroht oder belästigt gefühlt habe – immer von Männern. Die Herkunft dieser Männer spielte dabei keine Rolle. Was Friedrich Merz mit seiner Aussage zum ‚deutschen Stadtbild‘ sagen wollte, ist offensichtlich. Für mich als ‚Tochter‘ ist das purer Rassismus. Es beunruhigt mich sehr, dass solche rassistischen Aussagen von Merz und anderen Politikerinnen und Politikern mittlerweile salonfähig geworden sind. Das macht mir Angst – nicht meine Mitbürgerinnen und Mitbürger im Stadtbild.“
Nicole (Ärztin, 45) aus Hannover
„Ich habe jahrelang als Ärztin in einem multikulturellen Stadtteil gearbeitet und erlebe zunehmend Belästigung und Bedrohung – auf der Arbeit und im öffentlichen Raum – meist durch Männer mit patriarchalischem, frauenfeindlichem kulturellem Hintergrund. Das Stadtbild, besonders abends, ist nicht mehr wiederzuerkennen. Für meine Töchter und mich hat sich die Freiheit massiv verringert: Wir meiden abends das Stadtzentrum, öffentliche Verkehrsmittel, gehen nicht mehr auf den Weihnachtsmarkt. Als feministische Frau fordere ich, dass der Staat uns, unsere Töchter und unsere Werte schützt. Danke Friedrich Merz für die klaren Worte! Jetzt müssen endlich Taten folgen!“
Stephanie von Oetinger (42) aus München
„Es gibt ein Problem im Stadtbild, wenn jüdisches Leben und jüdische Identität sukzessive daraus verschwinden – sei es, weil Menschen aus Angst vor Anfeindungen keine Kippa mehr in der Öffentlichkeit tragen, weil sie es vermeiden, Hebräisch zu sprechen, oder weil israelische Restaurants zunehmend Anfeindungen und Gewalt ausgesetzt sind. All das sind alarmierende Anzeichen für zunehmenden Antisemitismus und ein gesellschaftliches Klima, in dem jüdisches Leben nicht mehr selbstverständlich und sichtbar Teil des Stadtbildes ist.“
Alina H. (29), Hameln
„Ich fühle mich draußen nur begrenzt sicher, besonders abends bin ich vorsichtiger und aufmerksamer. Meine Unsicherheit kommt aus Erfahrungen mit Männern, bei denen ich mich unwohl oder bedroht gefühlt habe. Die Herkunft spielt dabei keine Rolle – es geht um ihr Verhalten, nicht wer sie sind. Deswegen finde ich Merz’ Aussagen zum Stadtbild und der Gefahr für die Töchter rassistisch und gefährlich. Wenn er die Bedrohung, die viele Frauen erleben, auf bestimmte Gruppen schiebt, verschiebt er die Verantwortung und lenkt vom eigentlichen Problem ab. Mein Gefühl von Unsicherheit kommt von patriarchalen Strukturen und männlichem Verhalten, nicht von der Herkunft der Menschen. Ich wünsche mir, dass Männer wie Merz nicht mehr für mich als Frau oder Tochter sprechen.“
Aylin (18) aus München
„Als 18‑Jährige, die in einer vielfältigen Stadt aufgewachsen ist, konnte ich nur den Kopf schütteln, als Friedrich Merz über das ‚veränderte Stadtbild‘ gesprochen hat – so, als wäre Vielfalt ein Problem. Wenn ich durch meine Stadt gehe, sehe ich Menschen aus aller Welt und genau das macht sie lebendig. Für meine Generation ist das normal, wir wachsen mit Freunden auf, deren Eltern aus der Türkei, Syrien oder Polen kommen, und keiner von uns empfindet das als Bedrohung, sondern als eine Bereicherung.“
Jacqueline A. (28), Berlin‑Neukölln
„Ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich nachts keine Angst habe, durch Neukölln zu laufen. Aber nie fühle ich mich bedroht, wenn mir ausschließlich Frauen mit Migrationshintergrund begegnen. Woran Bundeskanzler Merz im ‚Stadtbild‘ erkennen will, wie ein Mensch mit deutschem Pass aussieht, sei mal so dahingestellt. Das Problem liegt nicht in der Herkunft, sondern in patriarchalen Strukturen: Männer, die glauben, sie dürften übergriffig werden, Frauen nicht in Ruhe lassen oder anfassen. Dieses Verhalten findet sich überall – nicht nur bei Männern mit Migrationshintergrund. Muss darüber trotzdem gesprochen werden? Ja, natürlich. Aber ich würde mir wünschen, dass Frauenschutz nicht nur ein Thema ist, wenn es der ‚böse Migrant‘ war. Warum redet Merz nicht darüber, dass der gefährlichste Ort für eine Frau ihr Zuhause ist? Dass die meisten Täter aus dem persönlichen Umfeld kommen. Wer den Schutz von Frauen nur dann thematisiert, wenn er gegen Geflüchtete Stimmung macht, sollte besser gar nichts sagen.“
Nicole Faulhaber (42) aus Augsburg
„Ich finde, der Bundeskanzler spricht da einen wichtigen Punkt an: Unser Stadtbild sollte zeigen, was uns als Gesellschaft verbindet – und nicht nur Bühne für einzelne politische Botschaften sein. Als ich neulich durch die Augsburger Innenstadt gegangen bin, ist mir aufgefallen, wie viele Hausfassaden und Laternenmasten mittlerweile mit politischen oder weltanschaulichen Symbolen behängt sind. Da fragte ich mich: Wo bleibt der Raum, der einfach uns allen gehört? Ich wünsche mir eine ruhige, ehrliche Diskussion darüber, wie wir Freiheit und Vielfalt in unseren Städten bewahren können – ohne gleich in Empörung oder Lagerdenken zu verfallen. Denn ein Stadtbild, das verbindet, sagt oft mehr über uns aus als jedes politische Plakat.“
Cleo Wansch (27) aus Köln
„Wenn Herr Merz wissen will, was mich als junge Frau im Stadtbild stört, dann sind es nicht Menschen mit anderer Hautfarbe, Sprache oder Religion. Was mich wirklich stört, sind sexistische Sprüche auf offener Straße, Männer, die mir nachts hinterherlaufen, und Politiker, die so tun, als wüssten sie besser als ich, wovor ich mich zu fürchten habe. Sicherheit entsteht nicht durch das Schüren von Misstrauen gegenüber bestimmten Gruppen, sondern durch Respekt, gute Sozialpolitik, Prävention und eine Gesellschaft, in der Frauen ernst genommen werden – nicht nur dann, wenn man sie als Mittel für politische Stimmung nutzt.“
Norma Grube (42), Schulleiterin aus Chemnitz
„Ich wohne in einem Viertel mit hohem Migrantenanteil – und habe mich dort nie unsicher gefühlt. Ich fühle mich hier zu Hause, nicht fremd im eigenen Land. Als Schulleiterin einer Schule mit Vorbereitungsklasse sehe ich jeden Tag: Herkunft sagt nichts über Verhalten. Ich habe großartige Schüler mit Migrationsgeschichte – und deutsche, die Grenzen austesten. Unsicherheit entsteht dort, wo Drogen und Alkohol Menschen verändern, nicht durch Hautfarbe oder Sprache. Wer Angst mit Herkunft erklärt, macht es sich zu einfach – und übersieht, wo die echten Probleme liegen.“
Julia D. (23) aus München
„Wenn ich abends auf den Bus warte, denke ich mir nur eins: bitte, bitte, bitte lauert da kein unangenehmer Mann an der Haltestelle. Gerade in den letzten Monaten wurde ich ausschließlich von verschiedenen Männern, die kein Deutsch verstehen, angesprochen. Und selbst wenn ich mehrmals ausdrücklich auf Englisch zu verstehen geben muss, dass ich kein Interesse an einem Gespräch habe, fühle ich mich durch ihre Blicke unwohl. Merz’ Politik hin oder her; als Nicht‑Fan kann ich seine Aussage (auch wenn ich das Tochter‑Narrativ nicht gut finde) nachvollziehen. Es sind Einzelfälle; dass man nicht generalisieren darf, ist klar. Und trotzdem bleibt Angst, die nicht immer da war.“
Tanja J. (22) aus Köln
Als Tochter kann ich die Merz-Aussagen nicht bestätigen. Wer wirklich um die Sicherheit von Frauen besorgt ist, sollte auf die alarmierenden Zahlen der häuslichen Gewalt schauen: 8 von 10 Betroffenen sind Frauen. Diese Gewalt findet hinter den geschlossenen, vermeintlich ‚sicheren‘ Türen des eigenen Zuhauses statt, weniger auf offener Straße. Auch wenn der Nachhauseweg, besonders nachts, ein reales Risiko birgt, zeigt die Statistik, dass Gewalt gegen Frauen dort überwiegend von Männern ausgeht, unabhängig von ihrer Herkunft. Das Geschlecht ist hier der stärkere Prädiktor als der Migrationsstatus. Darauf sollte der Fokus liegen.“
Paula S., 28, aus München
„Wenn ich im Dunkeln nach Hause gehe und jemand zu dicht hinter mir läuft, dann fühle ich mich bedroht. Wenn ich in einer Bar bin und sich jemand auf dem Weg zur Toilette zu eng an mir vorbeidrängt, dann fühle ich mich unwohl. Wenn ich nachts mit der U-Bahn heimfahre und mir jemand besoffen ins Ohr lallt, dann fühle ich mich belästigt. All diese Situationen erlebe ich als Frau regelmäßig. Die Täter haben alle eine Gemeinsamkeit: Sie sind Männer.
Was hingegen überhaupt keine Rolle dabei spielt: ihre Haut-, Augen- und Haar-Farbe. Nicht Migranten machen mir Angst. Männer tun das.
Friedrich Merz‘ Aussage halte ich demnach für höchst problematisch – und die Debatte darum damit für absolut gerechtfertigt. Ein Bundeskanzler sollte alle Menschen in seinem Land vertreten, schützen und für sie einstehen. Was er hingegen tut, ist spalten, ausschließen und diskriminieren. Und dass er das zu allem Überfluss in unserem Namen, im Namen der Töchter tut, macht mich als ebendiese wahnsinnig wütend.“