Die neue „Stadtbild“-Debatte ist kein Sicherheitsdiskurs, sondern eine rhetorische Eskalationsspirale, die Merz selbst gebaut hat.
Der rhetorische Trick hinter Merz' „Stadtbild“-Aussage
„Stadtbild“ ist ein gefährliches Wort, weil es zugleich konkret und leer ist. Jeder sieht etwas anderes.
Für die einen sind es vermüllte Plätze, aggressive Jugendgruppen oder fehlende Polizei. Für andere steht es für Vielfalt, Gerüche, Sprachen, Kulturen – kurz: das moderne Leben.
Wenn ein Politiker dieses Wort benutzt, malt er kein Bild, er wirft eine Leinwand in die Menge. Und alle beginnen zu malen. Das nennt man Framing – und Merz hat das sehr bewusst getan.
Der rhetorische Trick: Wer das Stadtbild „zurückholen“ will, wird automatisch zum Beschützer. Nur dass niemand so genau weiß, vor wem oder was.
In "Stadtbild-Dilemma" greift Merz zu brandgefährlichem Satz
Merz will Nähe erzeugen, er spricht über das Gefühl von Sicherheit. Der Satz „Fragen Sie mal Ihre Töchter“ ist darauf perfekt getrimmt.
Er trifft emotional, greift aber auch in ein Minenfeld. Denn sobald er das Thema Sicherheit an Geschlecht koppelt, wird es moralisch aufgeladen: Wer widerspricht, wirkt gefühllos. Wer zustimmt, unterstützt pauschale Angst. Ein klassischer Dilemma-Move.
Als Redelehrer erkenne ich darin eine bewusste Verschiebung: von Fakten zu Gefühlen, von Logik zu Bauch. Politisch oft effektiv – gesellschaftlich brandgefährlich.
Wie ein Pokerspieler, der zu lange glaubt, das bessere Blatt zu haben
„Ich habe nichts zurückzunehmen“ klingt nach Klarheit, ist aber semantisch ein Manöver. Der Satz steht zwischen Stärke und Starrsinn. Er signalisiert: „Ich lasse mich nicht treiben.“
Doch genau das ist der Punkt: Führung bedeutet, zu wissen, wann Standfestigkeit kippt in Unbeweglichkeit. Und hier kippt sie. Während andere Christdemokraten noch versuchen, den Begriff zu entgiften, hält Merz ihn wie ein Pokerspieler, der zu lange glaubt, das bessere Blatt zu haben.
Die CDU hat ein Kommunikationsproblem
Gewinner: die konservative Basis, die endlich wieder einen starken Satz hört.
Verlierer: die politische Mitte, die nach Lösungen sucht, nicht nach Schlagzeilen.
Verunsicherte: die Parteifreunde, die den Spagat zwischen Brandmauer und Straßenstimmung kaum noch halten können.
Denn Merz liefert zwar Aufmerksamkeit, aber keine Agenda. Die CDU hat kein Programmproblem – sie hat ein Kommunikationsproblem.
Michael Ehlers ist Rhetoriktrainer, Bestsellerautor und Geschäftsführer der Institut Michael Ehlers GmbH. Er coacht Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Sport und Medien. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.
Medien, Memes und Machtspiele
Inzwischen ist „Stadtbild“ längst zum Meme geworden. Auf Instagram und TikTok kontern User mit Fotos ihrer Straßen: vom syrischen Gemüsehändler bis zum hippen E-Bike-Café. Das Framing kippt. Wer die Deutungshoheit über sein eigenes Wort verliert, verliert mehr als eine Schlagzeile – er verliert das Publikum.
Journalistisch wird das Thema längst als „Kulturkampf“ erzählt. Der Spiegel nennt es eine „alte Sehnsucht in neuen Worten“. Die New York Times schreibt von „Germany’s conservative leader testing the boundaries of polite politics“.
Als Merz für Klarheit sorgen will, begeht er den wahren Fehler
Und in Warschau kommentiert man: „Ein deutscher Politiker redet endlich wie ein polnischer Bürgermeister.“ So unterschiedlich die Reaktionen – sie alle lesen das Gleiche: ein Land im Ringen um Identität.
Merz will Stärke zeigen. Doch Stärke in der Kommunikation entsteht nicht aus Härte, sondern aus Balance.
Klartext funktioniert nur, wenn er Brücken schlägt, nicht, wenn er Gräben vertieft. Der Satz „Ich nehme nichts zurück“ hätte wirken können, wenn er danach gesagt hätte: „Aber ich präzisiere.“ Doch dieser Satz kam nicht. Und damit wurde aus Standfestigkeit: Sturheit.
Was jetzt passieren muss
- Begriff klären. Wenn „Stadtbild“ mehr als Symbol sein soll, braucht es Definition, Daten und Verantwortlichkeiten.
- Maßnahmen liefern. Präsenz, Sauberkeit, zügige Verfahren – mit Zielen, Fristen und Transparenz.
- Sprache entschärfen. Zustände benennen, ohne Menschen zu etikettieren.
- Dialog wieder öffnen. Sicherheit ist kein Gegenspieler von Vielfalt. Wer beides zusammendenkt, gewinnt Zukunft.
Ein Satz, der mehr offenlegt als er sagt
Merz hat mit einem einzigen Wort das geschafft, wofür andere ganze Wahlprogramme schreiben: Er hat eine Debatte entfacht. Doch in der Rhetorik gilt: Ein gutes Wort erkennt man daran, dass es verbindet. Das „Stadtbild“ aber trennt.
Friedrich Merz redet, als wolle er endlich verstanden werden – und wird dabei nur noch lauter gehört. Das ist keine Führung. Das ist Kommunikation im Rückwärtsgang. Und sie zeigt, was Deutschland im Moment am wenigsten braucht: mehr Meinung, weniger Gespräch.