"Das ist die Taktik Russlands" - Hinter gnadenloser Zerstörung ukrainischer Städte steckt perfides Kreml-Kalkül

Zwei Tage, nachdem russische Truppen die ostukrainische Stadt Wuhledar erobert hatten, veröffentlichte das russische Verteidigungsministerium ein Video: Zwei russische Soldaten werden von 16 Ukrainern im Keller einer Schule begrüßt. Dort hatten sich die Bewohner zwei Jahre lang die meiste Zeit versteckt, während Russland versuchte, die Stadt einzunehmen. „Russland will keinen Krieg, dies ist eine Zwangsmaßnahme. Wir mussten unsere Menschen beschützen“, sagt einer der Militärs.

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Die Ukrainer erzählen den Soldaten, wie sehnlich sie auf diesen Tag gewartet haben. Ursprünglich seien sie etwa 450 gewesen, doch die meisten hätten das Leben unter dem ständigen Beschuss nicht mehr ertragen und seien geflohen.

Nach Angaben von Denis Puschilin, dem von Russland eingesetzten Chef der selbsternannten Volksrepublik Donezk, verblieben 115 Einwohner in Wuhledar, als die russische Armee die kleine Bergbausiedlung im südlichen Teil des Donbass am 2. Oktober einnahm. Vor zweieinhalb Jahren noch lebten in der Stadt 30.000 Menschen.

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Die gnadenlose Zerstörung der Städte ist russische Taktik

Das von den ukrainischen Streitkräften am Vortag ihres Rückzugs aufgenommene Drohnenvideo ist nicht nur schockierend. Es erinnert stark an Bilder, die fast jeder schon einmal gesehen hat: aus Popasnaja und Sjewjerodonezk, die 2022 zerstört wurden, sowie aus Bachmut und Marjinka im Jahr 2023. Anfang 2024 folgten Awdijiwka – und nun Wuhledar.

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Diese Städte sehen aus wie Zwillinge, bestehend aus den grau-schwarzen Überresten von verbrannten Betonhochhäusern. Leben ist hier kaum noch möglich. Das ist die Taktik Russlands: Es zerstört gnadenlos die Städte, die sich wehren.

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Wuhledar ist die zweite Stadt nach Awdijiwka, die die russischen Truppen in diesem Jahr erobern konnten. Meist beschränken sich die Erfolge ihrer Offensive auf Dörfer in offenem Gelände, während die ukrainische Armee in den Industriegebieten seit Monaten die Verteidigung hält.

„Wuhledar wurde eingenommen“, berichtet der russische Blogger Maxim Kalaschnikow auf seinem YouTube-Kanal. „Wir haben es in Gestalt von Ruinen erhalten, aber Gott sei Dank wurde es eingenommen.“ Kalaschnikow unterstützt eindeutig den Krieg gegen die Ukraine, kritisiert aber die Innenpolitik Putins. Auch in Bezug auf die sogenannten „neuen Territorien“, die Russland besetzt hat.

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„Natürlich sieht dort alles aus, als ob Heuschrecken vorbeigezogen wären. (…) Der Diebstahl war wie am letzten Tag von Pompeji. Die Region ist nun sehr deindustrialisiert“, beschreibt Kalashnikow seine Eindrücke von einer Reise in den Donbass im vergangenen Jahr. Ihm zufolge wurden nicht nur Fabriken, sondern sogar Straßenbahnschienen von Räubern demontiert, um aus dem Schrott Material zu gewinnen.

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Allerdings spricht Kalaschnikow von den Gebieten der selbsternannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk, die in der ersten Welle im Jahr 2014 von Russland erobert wurden. Sie kamen relativ unversehrt unter russische Kontrolle: Die Intensität der Kämpfe damals und heute ist nicht zu vergleichen. Angesichts des Ausmaßes der Zerstörung in Bachmut oder Wuhledar ist es unwahrscheinlich, dass dort überhaupt etwas erhalten geblieben ist.

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Russland braucht die Städte wohl vor allem als militärische Trophäe – und als Pufferzone an der Grenze zur Ukraine, in Gestalt von menschenleeren Ruinen. Die Ukraine erklärt, dass sie diese Gebiete zurückerobern will. Doch es stellt sich unwillkürlich die Frage: Gibt es überhaupt eine Chance, die Städte wieder aufzubauen?

Russland nutzt den Wiederaufbau von Mariupol für Propaganda

Wiktor Gleba, Architekt und Experte für Verwaltung und Stadtplanung, hält es für durchaus realistisch, die kommunale Infrastruktur und die Wohnhäuser wiederzubeleben. Immerhin sei das Ausmaß der Zerstörung dort weniger groß als in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. „Die Lenkbomben, die auf den Donbass abgeworfen werden, treffen genauer, tiefer und stärker als konventionelle Bomben. Dennoch ist es nicht die Teppich-Bombardierung, der deutsche Städte ausgesetzt waren“, sagt er dem Tagesspiegel.

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Als Beispiel führt Gleba Russlands Wiederaufbau von Mariupol an und vergleicht ihn mit dem von Ost-Berlin. Der einzige Unterschied sei, dass es sich damals um ein sowjetisches und heute um ein russisches totalitäres Baukonzept handelt: „Das ist ein Modell des groß angelegten Fertigbaus, bei dem früher Betonblöcke und heute Module verwendet werden. Aber in beiden Fällen wird der massive Wiederaufbau von einer starken Propaganda begleitet.“

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So kann man in den russischen Nachrichten fast täglich Berichte darüber sehen, dass in Mariupol wieder das Vorkriegsleben einkehrt. Wenn das Fernsehen über den Wiederaufbau des Donbass berichtet, wird fast immer gerade diese Stadt am Schwarzen Meer gezeigt. Hier werden neue Häuser gebaut und die weniger zerstörten wiederhergestellt. Die Bevölkerung von Mariupol wächst – vor allem durch Gastarbeiter aus Zentralasien, die auf den Baustellen arbeiten. Aber auch einige Einheimische, die 2022 vor den Bombenangriffen geflohen sind, kehren inzwischen zurück.

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Olga, die aus Mariupol nach Hamburg geflüchtet ist, hat sich kürzlich „vielleicht für immer“ von ihrer Mutter und ihrer Schwester verabschiedet. Zweieinhalb Jahre lang hatten sie in Deutschland gelebt; dann beschlossen sie, in ihre Heimatstadt zurückzukehren, auch wenn diese nun von Russland besetzt ist. Olga fällt es schwer zu sagen, was sie zu dieser Entscheidung bewegt hat. Kann es die russische Propaganda über den Wiederaufbau gewesen sein? Ihre Familie habe dieser offenbar geglaubt. „Der Hauptgrund war aber eher die Sorge um ihre Wohnungen“, sagt Olga. „Die sind unversehrt geblieben. Und leerstehende Wohnungen werden nun zugunsten des russischen Staates enteignet.“

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Die örtlichen Besatzungsverwaltungen geben die Einwohnerzahl von Mariupol mit 240.000 an. Das ist die Hälfte der Vorkriegsbevölkerung – aber bereits doppelt so viele wie zur Zeit der Besetzung im Mai 2022.

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In Bachmut leben keine Menschen mehr

Berichte aus Awdijiwka sind ebenfalls im russischen Staatsfernsehen zu sehen, allerdings viel seltener. In der einst 35.000 Einwohner zählenden Stadt leben heute etwa 1700 Menschen. Die Bilder zeigen Verwaltungschef Denis Puschilin, wie er die Stadt inspiziert, um zu sehen, ob sie für den Winter gerüstet ist. Er fordert die Bauarbeiter auf, sich mehr anzustrengen, um drei modulare Heizkessel noch vor Einbruch der Kälte zu installieren. Das örtliche Wärmekraftwerk wurde zerstört.

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Vor dem Krieg gab es in der Stadt 216 Hochhäuser – 19 davon können laut Baukommission wieder aufgebaut werden. In diesem Jahr werden die ersten sechs Häuser repariert, um alle verbliebenen Bewohner unterzubringen.

Die 70.000-Einwohner-Stadt Bachmut, die als die schönste Stadt im Donbass galt, taucht in den Nachrichten überhaupt nicht mehr auf. Unmittelbar nach der Besetzung im Mai 2023 erklärte Puschilin, dass die gesamte örtliche Bevölkerung evakuiert worden sei. „Es gibt keine Zivilisten mehr in der Stadt“, sagte er damals, und seitdem sind sie dort kaum noch aufgetaucht. „Meine Stadt ist ausgelöscht“, sagt eine aus Bachmut vertriebene Frau, die 40-jährige Natalya Iwatschshenko. Sie hofft immer noch, dass die Stadt von Grund auf wieder aufgebaut wird, wenn sie an die Ukraine zurückfällt: „Hoffentlich werden wir diese Zeit noch erleben.“

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Das Beispiel der Stadt Popasna in der Region Luhansk, die bereits im Mai 2022 eingenommen wurde, ist ebenfalls anschaulich. Die Besatzungsverwaltung erklärte kurz nach der Eroberung, dass die Stadt nicht wiederaufgebaut werden könne. Im März 2023 wurde sie von der offiziellen Liste der Ortschaften entfernt. Dennoch zeigte kürzlich ein Bericht einer russischen Reporterin, dass das Leben in Popasna weitergeht.

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Eine der Bewohnerinnen der Stadt, die 52-jährige Olga, erzählt in dem Video, dass etwa 280 Menschen in der Stadt leben. Ihr Nachbar habe kürzlich Suizid begangen, was nicht ungewöhnlich sei. Vor dem Krieg hatte Popasnaja 20.000 Einwohner.

Olga selbst lebt ohne Licht und Gas im teilweise zerstörten Haus ihrer Eltern. Ihr eigenes Haus steht nicht mehr, sagt sie. Sie ernährt sich von ihrem Gemüsegarten, manchmal brächten russische Soldaten humanitäre Hilfe. „Vorher gab es in der Stadt eine Glasfabrik, eine Bekleidungsfabrik, eine Wagenreparaturwerkstatt und ein Lokomotivdepot. Wir haben ganz gut gelebt“, erinnert sie sich.

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Vor dem Krieg war der Donbass die wichtigste Industrieregion der Ukraine, vergleichbar mit dem deutschen Ruhrgebiet. In fast jeder der inzwischen besetzten Städte gab es ein stadtbildendes Unternehmen: Kohle, Metallurgie, Chemie oder Maschinenbau.

Im Gegensatz zur städtischen Infrastruktur sei es kaum möglich, viele der zerstörten Fabriken wieder aufzubauen, sagt der Architekt Wiktor Gleba: „Es wäre günstiger gewesen, sie von Grund auf neu zu bauen, aber das scheint im 21. Jahrhundert nicht mehr sinnvoll. Das Konzept der industriellen Produktion hat sich völlig verändert“.

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Eines ist klar: Das frühere Leben dieser Städte ist vorbei. Sollten sie jemals wieder aufgebaut werden, werden sie bestenfalls ganz neue Städte sein. Wenn nicht, dann bleiben sie Ruinen in der Grauzone zwischen der Ukraine und Russland, schwarz und unbewohnbar.

Von Valeriia Semeniuk

Das Original zu diesem Beitrag "Russische Flaggen auf Ruinen: Von den im Donbass eroberten Städten ist kaum etwas übrig" stammt von Tagesspiegel.

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