Enormer Frust nach Wahlpleite - Bei Genossen platzt jetzt Wut auf Partei-Spitze raus: „SPD hat auf die Fresse bekommen“
Nach der Wahl ist vor der Wahl. Am Sonntag wählen die Hamburger ihre Bürgerschaft neu. Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) würde gern mit den Grünen weiterregieren. Wahlkampfauftritte von SPD-Bundespolitikern, etwa von Kanzler Olaf Scholz, Tschentschers Vorgänger, oder den Vorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken sind jedoch nicht vorgesehen.
Wenn die Hamburger SPD am Donnerstag zum Abschluss des Bürgerschaftswahlkampfs ins Klubhaus St. Pauli lädt, ist der Stargast Malu Dreyer, die frühere rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin.
Viel deutlicher lässt sich die Distanz zur SPD-Führung in Berlin kaum demonstrieren. Das 16-Prozent-Debakel der SPD bei der Bundestagswahl hat viele Genossen frustriert. Dass Parteichef Klingbeil, kaum dass die Wahllokale geschlossen hatten, erst seinen Verbleib im Amt verkündete und dann nach dem Fraktionsvorsitz griff, hat viele an der SPD-Basis wütend gemacht. Auch solche, die Klingbeil schätzen und ihn stützen.
Am Montag, im Parteivorstand, bricht sich der Ärger über Esken Bahn. Der Vorstand tagt noch, als Esken, Klingbeil und Scholz um 13 Uhr eine Pressekonferenz abhalten. Sie habe in den letzten fünf Jahren an der „breiten und tiefen Verankerung der Partei im Land mit großer Freude“ gearbeitet, sagt Esken dort, „und das gedenke ich auch weiter zu tun“. Der Parteivorstand, der parallel tagt, erfährt das per Ticker-Meldung.
„Früher war mehr Demut“
Vorstandsmitglied Ibrahim Yetim macht in der Sitzung am Montagnachmittag seinem Ärger Luft, wie der Tagesspiegel anschließend aus SPD-Kreisen erfährt. Darauf angesprochen, bestätigt Yetim diese Darstellung und sagt dem Tagesspiegel: „Es ist nicht in Ordnung, dass Saskia Esken und Lars Klingbeil erst den Medien sagen, dass sie im Amt bleiben wollen oder gar ein neues Amt anstreben, und nicht dem gewählten Parteivorstand.“
Yetim geht noch einen Schritt weiter, sagt unserer Redaktion: „Die SPD hat am Sonntag so einen auf die Fresse bekommen, dass sich Esken und Klingbeil fragen müssen, ob sie die richtigen Vorsitzenden sind. Wir tun so, als sei am Sonntag nichts geschehen. Wir setzen auf ein Weiter so mit den bekannten Personen. Das geht nicht.“ Die SPD müsse sich „programmatisch erneuern, braucht neue Köpfe, die unserer Programmatik entsprechen“.
Unter Abgeordneten gibt es auch Ärger. Isabel Cademartori, wieder gewählt in Mannheim, schreibt auf X: „Früher war irgendwie mehr Demut und Aufarbeitung #SPD“
Als am Dienstag die bisherigen und künftigen SPD-Abgeordneten im Fraktionssaal zusammenkommen, herrscht ein Gefühl der Bedrückung und Ernüchterung. Besorgt, nachdenklich, verärgert über den Mangel an Konsequenzen nach dem Wahldebakel seien viele Abgeordnete gewesen, heißt es in Fraktionskreisen.
Die Abgeordneten wissen, dass die SPD auf Klingbeil derzeit wohl angewiesen ist. Ein Überangebot an Menschen, die für die erste Reihe taugen, hat die SPD nicht. Und trotzdem ärgern sich auch viele Fraktionsmitglieder, mit welcher Entschiedenheit Klingbeil als Erstes für sich selbst ein attraktives Amt sicherte. Und auch von dem großen Ärger in den Landesverbänden und an der Basis ist hier zu hören.
Am Dienstag tagen die scheidende und die künftige Fraktion gemeinsam. Am Mittwoch kommen nur die Abgeordneten zusammen, die auch künftig im Parlament sind. Dann wird Klingbeil, bevor er zum Vorsitzenden gewählt wird, klarmachen müssen, wohin es für die Fraktion unter seiner Führung gehen soll.
Die Frau feuern, den Mann befördern?
Derjenige, der dafür aus der ersten Reihe zurücktreten muss, ist Rolf Mützenich, der scheidende Fraktionschef. Vor seiner letzten Sitzung in diesem Amt nennt er das Wahlergebnis einen „tiefen Einschnitt“ in die Geschichte der Partei. Er erklärt, warum er sein Amt an Klingbeil übergibt: Der müsse nun in den Gesprächen mit Wahlsieger Friedrich Merz als neuer starker Mann, Chef von Partei und Fraktion, mit „Stärke“ und „Konsequenz“ auftreten können.
Auch in den Landesverbänden ist der Ärger über die SPD-Spitze und ihr Agieren groß. Immer wieder heißt es, es gehe nicht an, dass sich alle Kritik auf Esken richte, nicht aber auf Klingbeil. In einer Schaltkonferenz des Vorstandes der SPD Rheinland-Pfalz fallen, gemünzt auf Esken und Klingbeil, Sätze wie: „Die Frau feuern und den Mann befördern, das geht gar nicht.“
Ähnliche Kritik wird im Berliner SPD-Landesvorstand am Montag laut, und zwar flügelübergreifend. Das historisch schlechte Ergebnis verlange, dass die Führungsriege dafür Verantwortung übernehme, heißt es. Nicht nur, dass Klingbeil und Esken weiter machen wollen, sondern auch die Art und Weise, wie sie das verkündet haben, wird als unangebracht wahrgenommen.
Berlins Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey, ehemals Bundesfamilienministerin und Regierende in Berlin, fordert eine personelle Erneuerung an der SPD-Spitze: „Nach dem historisch schlechten Wahlergebnis der SPD am vergangenen Sonntag ist es offensichtlich, dass daraus in der Partei Konsequenzen gezogen werden müssen“, sagte sie dem Tagesspiegel. Das gelte sowohl für die programmatische Ausrichtung, als auch für die Parteispitze im Bund.
„Ein einfaches Weiter so mit den gleichen handelnden Personen kann aus meiner Sicht nicht die Antwort auf die notwendige Frage der Erneuerung sein“, sagte Giffey. Klingbeils Wort vom „Generationswechsel“ müsse nun rasch mit Leben gefüllt werden. „Es gibt fähige Personen in der Partei, die jetzt mehr Verantwortung übernehmen könnten. Das muss ermöglicht werden.“
"Saskia Esken kommt bei der Basis nicht an und sollte den Platz für Bärbel Bas als neue Co-Vorsitzende räumen" Heiko Wittig, SPD-Fraktionschef in Nordsachsen
Falk Wagner, Vorsitzender der SPD Bremen, zeigt sich ebenfalls verärgert. „Bei unserer Parteibasis kam es überhaupt nicht gut an, dass der Parteivorsitzende im Moment der bittersten Niederlage zunächst einen Spitzenposten mit sich selbst besetzt“, sagt Wagner dem Tagesspiegel: „Der von Lars Klingbeil angekündigte Generationenwechsel ist wichtig, deshalb muss damit deutlich mehr gemeint sein als eine Person.“
“Kannst du niemandem erzählen“
Nachfrage bei Heiko Wittig, SPD-Fraktionschef in Nordsachsen. Wittig kandidierte am Sonntag erfolglos für den Bundestag, er hatte schon vor knapp einem Jahr öffentlich für einen SPD-Kanzlerkandidaten Boris Pistorius geworben. „Dass die SPD mit dem unbeliebtesten Kanzler der deutschen Geschichte in den Wahlkampf gegangen ist, bedeutete sehenden Auges in die Katastrophe zu laufen“, sagt Wittig dem Tagesspiegel: „Ich kann nicht verstehen, dass es die Parteispitze nicht geschafft hat, Olaf Scholz zum Rückzug zu bewegen.“ Er habe für seinen Vorstoß, Pistorius zu nominieren, „keinerlei Unterstützung, sondern arge Schelte“ bekommen.
„Lars Klingbeil machte in der Kanzlerkandidatenfrage keine glückliche Figur, hat die SPD aber inhaltlich im Wahlkampf ausgezeichnet vertreten und hat nicht umsonst gute Beliebtheitswerte“, sagt Wittig: „Die Werte für Saskia Esken dagegen sind nicht gut. Sie kommt bei der Basis nicht an und sollte den Platz für Bärbel Bas als neue Co-Vorsitzende räumen.“
An der viel beschworenen Basis wird ebenfalls Kritik laut. Mattheus Berg, Mitglied und Mit-Inhaber einer „Strategieagentur“ für SPD-Politiker, schreibt auf X: „Wir wissen jetzt seit 24 Stunden, dass sich unsere Fraktion halbieren wird und noch immer gibt es weder personelle Konsequenzen noch ein Wort des Demuts. Nicht mal ein Bauernopfer. Kannst du niemandem erzählen.“
Von Karin Christmann, Daniel Friedrich Sturm, Anna Thewalt
Das Original zu diesem Beitrag "Frust und Wut bei den Genossen: „Die SPD hat einen auf die Fresse bekommen“" stammt von Tagesspiegel.