Serie: „So geht es Deutschland wirklich“ - 40 Jahre lang verkauft Christoph problemlos seine Ware – dann kommt „Paragraph 11“

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Christoph Hagenmeyer in seiner Bootswerft in Utting am bayerischen Ammersee (Foto: Josef Seitz)
Mittwoch, 19.02.2025, 09:40

Seit mehr als 40 Jahren arbeitet Christoph Hagenmeyer mit speziellen Farben. Seit 2025 muss der Werftbesitzer vom bayerischen Ammersee den Nachweis erbringen, dass er damit verantwortlich umzugehen weiß. „Man traut niemandem mehr den gesunden Menschenverstand zu“, sagt der 58-Jährige.

„Abdrift“ würde man in der Seglersprache dazu sagen. Nur geht es hier nicht um seitlichen Wind, der ein Boot versetzt. Die Bürokratie hat eine neue Regelung hervorgebracht, die Christoph Hagenmeyer vom eigentlichen Kurs abbringt. Wieder einmal.

Diesmal geht es um die Chemikalien-Verbotsverordnung. Die verpflichtet Hagenmeyer seit dem 1. Januar 2025, dass er sich zum „Sachkundigen nach Paragraph 11“ ausbilden lässt. Das ist jetzt wie bei der Patientenaufklärung vor der Herz-OP. Wenn Hagenmeyer im Laden seiner Werft am bayerischen Ammersee bestimmte Bootsfarben weiterhin verkaufen will, muss er mit jedem Kunden ein Abgabegespräch führen und das in einem Buch dokumentieren.

Um aufklären zu dürfen, muss er seine Sachkenntnis als Sachkundiger bestätigen lassen. Der Kurs kostet ihn ein Wochenende. „Der Kunde muss unterscheiben, dass er dieses Abgabegespräch erhalten und verstanden hat“, sagt Hagenmeyer. Und er fügt hinzu: „Der Wahnsinn!“

Neue Regelung: „Sachkundiger nach Paragraph 11“

Der Mann, der sich jetzt seine Sachkunde im Umgang mit den Chemikalien neu bescheinigen lassen muss, arbeitet mit diesen Farben, seit er 16 Jahre alt ist. 1982 hat der gebürtige Frankfurter mit dem Realschulzeugnis in der Tasche seine Lehre als Bootsbauer begonnen – und das ausgerechnet in Utting am Ammersee. Hier hatte ihm seine Mutter für die Ferien einen Segelkurs gebucht.

Hier setzte er zum ersten Mal in seinem Leben seinen Fuß auf ein Segelboot. Hier erlebte er damit sozusagen eine Liebe auf den ersten Tritt. Und die hat ihn sein Leben lang nicht wieder losgelassen.

Die Bescheinigung über den absolvierten Segelkurs hat Hagenmeyer noch heute griffbereit. Ausgestellt ist sie von Georg Steinlechner, seinem späteren Lehrherrn, bei dem er noch später in die Geschäftsführung aufsteigt. Man denkt und lebt und arbeitet eben in langen Linien in der „Steinlechner Bootswerft“.

Die ist anno 1910 gegründet und als Familienbetrieb geführt, bis Christoph Hagenmeyer sie im Jahr 2005 übernimmt. Die Werft hat den Ersten Weltkrieg überstanden, sie hat den Zweiten Weltkrieg überlebt. „Das geht nicht kaputt“, ist sich Christoph Hagenmeyer sicher. Wobei seine Werft mit der Ukraine bereits der dritte Krieg getroffen hat.

Serie: "So geht es Deutschland wirklich"

Viele Menschen klagen, die aktuelle Politik gehe an ihrer Lebenswirklichkeit vorbei. Doch was wünschen sie sich? Wie geht es ihnen? FOCUS-online-Reporter reisen drei Monate durch Deutschland und fangen die Stimmung ein – für eine Serie mit 101 Folgen.

Markt für seine Boote brach zusammen - durch Krieg

Der Verkauf von neuen Booten ist komplett eingebrochen – und zwar, erinnert sich der 58-Jährige, mit genau dem Tag, als Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann öffentlich empfohlen hatte, zum Energiesparen öfter mal auf die warme Dusche zu verzichten und zum Waschlappen zu greifen.

Hagenmeyers Rennyollen aus England, Preissegment bis 20.000 Euro, waren der Renner. Bis zum Ukraine-Krieg. „Das ist der Markt“, erlebt der Werftbetreiber, „in dem am meisten gespart wird. Die ganz Großen, die mit Preisen über zwei Millionen, die haben alle Wartelisten – auch heute noch.“

Die Schere in den Vermögen geht auseinander? „Total“, gibt Hagenmeyer zur Antwort, „das kann man nicht wegdiskutieren. Das sind einfach Fakten.“

Vom Verkäufer wandelt sich Hagenmeyer wieder mehr zum Bewahrer. Das ist ohnehin seine Leidenschaft. Er unterhält ein Winterlager mit 150 Booten. Und versteht sich mit seinen 15 Mitarbeitern von Meistern bis zu aktuell drei Azubis als Reparatur- und Dienstleistungsbetrieb.

Für seine jungen Leute in der Werft hat er viel Lob, gerade für die erste Frau, die gerade eine Ausbildung bei ihm absolviert. Er hat aber auch schon negative Erfahrungen gemacht – vor allem, wenn es um die Flexibilität geht, die sein Saisongeschäft benötigt. „Die Bereitschaft gibt es nicht mehr so oft, nach der zweiten Samstagsarbeit wird es den meisten schon zu viel“, hat er erlebt.

„Da müssen wir uns aber selber an den Haaren ziehen. Unserer Gesellschaft ging es einfach so gut, dass es von den jungen Leuten kaum mehr einer gelernt hat, sich etwas erkämpfen zu müssen. Wir sind zu satt geworden.“

Junge Leute wenig belastbar: „Wir sind zu satt geworden

„Ich konzentriere mich auf die Dinge, bei denen ich nicht ersetzbar bin mit meiner Werft“, hat Christoph Hagenmeyer beschlossen: „die Dienstleistung, das Handwerk – und das in der Gesamtkombination Segelmacherwerkstatt und Bootswerkstatt.“

Der Mann vom Ammersee, der seit mehr als 40 Jahren hier seine Boote baut und pflegt, schätzt die Nachhaltigkeit. Die ist für ihn kein Marketing-Gerede, sondern tägliches Erlebnis. „Ich sehe meine Arbeit auf dem See“, sagt er. „Und wenn es schön ist und funktioniert, dann kann ich sagen: gut gemacht.“

Diese Leidenschaft will der Meister in Bootsbau und Segelmacherei auch an die jungen Leute weitergeben. Wer Boote bauen, wer Boote reparieren, wer Boote pflegen will, der muss das Segeln verstehen, ist sich Hagenmeyer sicher.

Er selber profitiert von seiner Zeit im Leistungssegeln, die ihn bis in die Juniorennationalmannschaft gebracht hat. „Diese Erfahrung, dass ich nicht nur das Handwerkliche verstehe, schafft keine Berufsschule“, sagt der 58-Jährige. „Welche Kräfte wo auf ein Boot einwirken – wenn du das nicht selber erfahren hast, das kann dir keiner beibringen.“

Auch deshalb hat Hagenmeyer direkt vor seiner Werft seinen Zugvogel liegen, ein schönes Holzboot. Und wenn der Wind gut ist, ermuntert er seine Mitarbeiter, pünktlich Feierabend zu machen und noch ein paar Stunden im Wind und auf dem See zu genießen. „Das braucht ihr“, sagt er dann, „das Gefühl kann ich euch nicht geben“.

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„Man traut niemandem gesunden Menschenverstand zu“

Und sein Gefühl als Unternehmer für Deutschland?

Christoph Hagenmeyer muss nicht überlegen. „Das Allerwichtigste ist“, sagt er und schnauft erst einmal tief durch, „dass alles Unnötige, all das Bremsende, die die Leute in den Wahnsinn treibende Bürokratie so schnell wie möglich abgebaut wird. Das ist es, was die Leute lähmt. Das ist es auch, was heute so vieles so teuer macht.“

Bei der Suche nach der Wurzel für die überbordende Bürokratisierung muss der Werftbesitzer vom Ammersee nicht lange nachdenken. „An allen Stellen sichert sich unsere Gesellschaft ab. Jeder hat nur mehr Angst, dass er für irgendetwas verantwortlich gemacht werden könnte. Man traut niemandem mehr den gesunden Menschenverstand zu.“

Eine Ursache sieht er da auch in der Migration. Schließlich müsse man in vielen Bereichen heute mit Menschen arbeiten, die nicht richtig Deutsch verstehen. Echte Sorgen um seine Zukunft und die Zukunft der Traditionswerft Steinlechner macht er sich nicht – für sein Handwerk gibt es eine Bedrohung weniger: „Uns wird keine KI ersetzen. Die kann uns unterstützen. Aber sie wird niemals ein altes Boot reparieren können.“