Ehemaliger US-Botschafter warnt - „Putins Panzer sind für Deutschland größere Gefahr als Messerstecher und Amokfahrer“

„Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents.“ Mit diesem gewichtigen Satz leitete Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 27. Februar 2022 seine Regierungserklärung ein. Anlass war der völkerrechtswidrige Überfall auf die Ukraine durch Russland unter seinem Präsidenten Wladimir Putin.

„Zeitenwende“ ist ein großes Wort. Doch wie ernst hat es Scholz gemeint? Was hat die Bundesregierung konkret getan, um auf die neue Bedrohung für Deutschland und Europa zu reagieren? Und wie groß ist die Bereitschaft der deutschen Bevölkerung, den Preis für eine neue – und deutlich teurere – Verteidigungspolitik zu zahlen?

Bei der vorgezogenen Bundestagswahl am 23. Februar, fast genau drei Jahre nach Scholz‘ „Zeitenwende“-Erklärung, steht auch diese Frage zur Abstimmung. Alle Parteien haben sich das Thema „Sicherheit“ auf die Fahnen geschrieben.

Früherer US-Botschafter: Putin Gefahr für Sicherheit

Der frühere US-Botschafter in Deutschland, James D. Bindenagel, warnt allerdings im Gespräch mit FOCUS online: „Wer die aktuelle politische Debatte verfolgt, kann leicht den Eindruck gewinnen, dass sie damit zuerst die Sicherheit vor Messerattentätern und Amokfahrern in deutschen Innenstädten meinen.“

Die von solchen Gewalttätern ausgehende Gefahr sei „zweifellos real“ und müsse von der Politik konsequent bekämpft werden. Jedoch dürften die jüngsten Bluttaten von Aschaffenburg, Magdeburg, Solingen und Mannheim „nicht den Blick dafür verstellen, wo bei dieser Wahl wirklich sicherheitspolitische Weichen gestellt werden“.

Bindenagel zufolge geht die gewichtigste Bedrohung der nationalen Sicherheit „nicht von geistig verwirrten oder ideologisch verblendeten Migranten“ aus, sondern „von dem umfassenden Krieg, den Putins Russland nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen Europa und Deutschland führt“.

Der frühere US-Diplomat, heute Visiting Distinguished Fellow beim German Marshall Fund in Berlin, verweist auf „durchtrennte Unterseekabel, Auftragsmorde in deutschen Innenstädten und gezielte Desinformationskampagnen mitten im Wahlkampf.“

Bindenagel zu FOCUS online: „Das sind nur einige Beispiele, die belegen, dass wir uns längst im hybriden Krieg befinden.“ Immer mehr westliche Geheimdienste hielten „auch einen ‚heißen‘ Krieg zwischen Russland und dem Westen für zunehmend wahrscheinlich“, warnt er.

Bindenagels Kollege Karsten Jung, Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl, erklärte gegenüber FOCUS online, nicht allein Russland stelle eine immer größer werdende Bedrohung dar.

„Eine Achse aus Russland, China, Iran und Nordkorea hat sich längst daran gemacht, die von den USA getragene liberale internationale Ordnung zu zerstören.“ Eine Ordnung, „von der kaum ein Staat so sehr profitiert wie Deutschland“.

Der neue US-Präsident Donald Trump habe jedoch deutlich gemacht, dass die amerikanische Sicherheitsgarantie für Europa nicht mehr unbeschränkt gilt und die US-Unterstützung für die Ukraine zurückgefahren wird. „Europa ist zunehmend auf sich allein gestellt“, so Jung.

Bindenagel: Deutschland ist schlecht vorbereitet

Auf diese Realität sei Deutschland „in keiner Weise vorbereitet“, warnt der frühere US-Botschafter James D. Bindenagel – im Gegensatz zu anderen Ländern in der EU und in der Nato.

„Polen investiert bereits über vier Prozent seines Bruttoinlandsproduktes in Verteidigung, Lettland hat jüngst bis zu sechs Prozent als Ziel ausgegeben, auch die übrigen baltischen und die nordischen Staaten sowie Macrons Frankreich haben wichtige Initiativen und Debatten gestartet.“

Von einer solchen Dynamik sei in Deutschland „weit und breit nichts zu spüren“. Nur unter Einbeziehung des Sondervermögens für die Bundeswehr erreiche Berlin „mit Ach und Krach das Nato-Minimalziel von zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung“, so der Politikexperte.

Und selbst eine parlamentarische Mehrheit aus CDU/CSU, Grünen und FDP habe es zuletzt nicht geschafft, „gegen den Willen eines starrsinnigen Kanzlers“ drei Milliarden Euro zusätzliche Hilfen für die Ukraine zu mobilisieren. Gegenüber FOCUS online kritisierte er, dass die Bundesregierung völlig unzureichend auf die russische Bedrohung reagiere.

„Statt notwendigen Investitionen in Verteidigung, Abschreckung und Infrastruktur versprechen die Wahlplakate der Parteien ‚sichere Renten‘, ‚niedrige Steuern‘ und ‚mehr Netto‘, als hätte es die ‚Zeitenwende‘ nie gegeben.“

Zwar habe Scholz einiges auf den Weg gebracht – etwa erhebliche Investitionen in die eigene Verteidigungsfähigkeit, die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine oder die dauerhafte Stationierung einer deutschen Brigade in Litauen.

„Gleichwohl gilt es aus heutiger Sicht zu konstatieren, dass die politischen Folgen der Zeitenwende sowohl hinter den seinerzeitigen Erwartungen als auch den heutigen Notwendigkeiten zurückbleiben“, stellt Bindenagel fest.

Verteidigungsbudget um 80 Milliarden Euro anheben

Beide Experten fordern Deutschland auf, die Unterstützung der Ukraine sowie die Abschreckung gegenüber Russland „massiv auszuweiten“. Das Verteidigungsbudget müsse jährlich „um mindestens 30, eher 80 Milliarden Euro angehoben werden.“

Wenn sich Deutschland nicht erheblich stärker anstrengt, um seinen Teil an den Kosten der Abschreckung zu tragen, würden die Belastungen, die auf das Land zukommen, „deutlich höher sein,“ warnt Bindenagel.

Russland und seine Verbündeten in Peking, Teheran und Pjöngjang würden nur darauf warten, dass der Westen Schwäche zeigt, „um ihre Vorstellungen einer neuen, illiberalen Weltordnung vorantreiben zu können“. Aus Sicht der Experten sei Abschreckung „die beste Verteidigung gegen die von Russland ausgehende militärische Bedrohung“.

Diesen Punkt müssten die deutschen Wähler bei ihrer Entscheidung am 23. Februar mit berücksichtigen.